Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Diskrete Aufweichung der Norm

Historischen Asis auf die Haut geblickt

"Sie wissen schon, sein Andenken... Ich möchte nicht, daß man in Lyon erfährt, daß er Syphiliskranke und Männer aus Strafkolonien photographiert hat." Mit diesen Worten bat die Verkäuferin eines Nachlasses, eine alte Dame, um Anonymität und händigte Gérard Lévy Farbphotos aus den Dreißigern aus, so beschreibt es der kurze Text im Buch. Wer nur flüchtig die Seiten durchblättert, wird bunte und etwas betuliche Bilder sehen. Blumen, bürgerliche Interieurs, ein Krankenhaus, Hautkrankheiten, und vor allem viele Tätowierungen mit figürlichen Motiven: Blumengirlanden und Frauengesichter, Hurenmotive, "Knastpunkte", antimilitaristische Symbole, patriotische Motive, Erinnerungen an Nordafrika, einmal eine japanisches Arbeit, Kriegsgerichte, symbolische Tiermotive, die Charaktereigenschaften bedeuten, manches bunt. Tätowierungen, die nicht nur Arbeit um der Schönheit willen sind. Teilweise ist ihre Symbolik nur für Eingeweihte verständlich. Händel um eine Frau oder Bordellszenen, ein an einem Anker gefesselter Matrose der Marine oder Erinnerungen an ein Kriegsgericht. Was da in die Haut gestochen wurde, sind biographische Wunden und der Stolz einer Subkultur, die bis zum Tode ihre kriminelle Biographie niemals verleugnet.

Dazu Photos von Aussatz, Syphilis und entstellenden Geschwüren - entartet, hätten einige in Deutschland damals gesagt, wenn Krankheit ein Stilleben der Natur wird - wahrgenommen mit einem staunenden Blick, der in den Zufälligkeiten einer Schuppenflechte dasselbe Muster wie in einer Blume entdeckt, lange bevor Chaostheorie überhaupt zu denkbaren Vorstellungen gehört hatte.

Fotografiert hat alles wohl ein Arzt, der ein Angehöriger der, wie man damals sagte, bourgeoisen Schicht war und in allem eine ästhetisch interessante Dimension entdeckte. Wie sein schreibender Kollege Céline in Paris oder in Berlin Döblin, die beide Armenärzte waren und Berichte aus der Welt der damals Verfemten und Abseitigen in Literatur verwandelten, sieht der unbekannte Arzt hier keine "Fälle" in krimineller Hinsicht, sondern eine für damalige Vorstellungen bemerkenswerte Form von Kunst, was ihn von dem ethnologischen oder prozessural aburteilenden Blick früherer Photographen abhebt. Die "Erfindung", wie Foucault es definierte, des "Kriminellen" als gesonderte menschliche Spezies im neunzehnten Jahrhundert rückgängig zu machen - die Mauer der Ausschließung, die Straflager, die gesellschaftliche Unmöglichkeit - zu "denen" zu reden: Leider sind die Begleittexte Gérard Lévys und Serges Bramlys nur flüchtig geschrieben und verraten kaum die Sensation, die diese Arbeiten bedeuten - die diskrete Aufweichung der Norm, diesmal im bürgerlichen Lyon, die jener Erschütterung vorausging, die durch den Einbruch der "Anderen", der Krimininellen, Perversen und Drogensüchtigen, in das Zoon des Literatur und Kunstbetriebes ausgelöst wurde: Doch die Sensation von damals ist das Biedermeier von heute, womit die dekorativ betuliche Aufmachung des Buches im übertragenen Sinne eine sehr ehrliche ist.
GMZ

Gérard Lévy und Serges Bramly, "Fleurs de peau" . Bilder auf der Haut, 103 S., Gina Kehayoff Verlag, München

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