Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
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Rock the Kaschemme

Die Lebensbeichte des Francois Villon im Shrine

Jene versunkene Zeit, da die Menschen noch Sinn für Wesentliches hatten, als die Lounge noch Schänke hieß, Wein aus Tonkrügen hinnter gestürzt wurde und dem Zecher die Ochsenzunge ohne störende Sättigungsbeilage um die Ohren flog, jene Ära, von sensiblen Naturen meist "finsteres Mittelalter" genannt, kannte ihn schon: Den Rocker. Und wenn heute die Generation X, Y oder Z ihren Pisco Sour schnorchelt, denkt vielleicht mancher daran, wie er einst schaudernd jene Verse lass, die Ozzy Osborne wie einen Fußpfleger aussehen lassen und Lemmy von Motörhead wie einen Klassiker. So muss man drauf sein, ey! So wie Francois Villon, dieser ewige Geheimtip mit Boheme-Appeal, dieser etwas andere Kerouac. Villon spielen können viele, ein bischen Räuber-Flair ist immer drin, aber Villon sein, das kann Alfons Kujat wie kaum ein anderer. Seit zwölf Jahren wächst der Schauspieler in die Rolle hinein, in die Balladen und in das "Große Testament" des französischen Poeten aus dem 15. Jahrhundert. Die unbeugsame Haltung Villons gegen Unterdrückungsmechanismen faszinierte ihn damals wie heute.

Fackeln, Stroh und Holzbänke machen ein schickes Styling, aber noch keine Kaschemme. Kujat schon. Denn: angenommen es wäre kein Theater - wer sollte dem blonden Hünen sein Revier streitig machen, die Weinkaraffe abschwatzen, seine dröhnende Stimme überhören? Wo er verweilt, läßt er heiligen Schreck zurück und einiges an Flüssigkeit. Vom Galgen trennt ihn nur der Wille, mit dem Leben abzurechnen. Nicht nur Mittelalter ist das, auch nicht Disneyland, sondern jener zeitlose Ort, wo sich manchmal Wahrheit gegen Werbetext aufzulehnen scheint.

Im Sog des Grenzgängers, weiß Kujat von seinen Tourneen zu berichten, sprengen schon mal aufgewühlte Gäste ihre eigenen Grenzen. Das spontane Feedback reicht von erotischen Avancen über Aggressionen bis hin zu Minnekünsten im Stroh. Die vier Nonnen bei einem denkwürdigen Gastspiel im Schwäbischen behielten hingegen die Contenance, obwohl sie wahrscheinlich den Leibhaftigen vor Augen hatten. Oder zumindest Lemmy von Motörhead.
Klemens Vogel

Die Lebensbeichte des Francois Villon, im Shrine, Kreutzigerstr. 12, HH, am 29. und 30.1., 21 Uhr; Vorbestellungen fon 29669053

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