Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
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Die entzauberte Fremde
Urlaub von der Prosa: Im Theater zerbrochene Fenster logiert "Der Fremde" von Albert Camus

"Fremd ist der Fremde nur in der Fremde" witzelte einst Karl Valentin und dachte dabei womöglich an einen verirrten "Sau-Preiß" im blau-weißen Bergidyll; an die absurde Existenz des Menschen in der entzauberten Moderne wohl eher nicht. Dieses Feld überließ er dem deutlich ernster gestimmten Kollegen Albert Camus, dessen Erzählung "der Fremde" touristische Problemlagen kaum berührt, sondern die Pathologie eines teilnahmslos-leeren Weltbezugs anhand des Protagonisten Mersault dokumentiert. Zweifellos ist der Evergreen des Nobelpreisträgers über den Zufallsmörder nach wie vor für eine giftige (Selbst-)Erkenntnis gut. Die Schauspielerin und Regisseurin Heidrun Siebert griff nun kürzlich ins Klassikerregal und entführte den Text aus dem Prosa-Reservat auf die Bühne des Theaters zerbrochene Fenster. Ein Ausflug, ein Urlaubstrip, der dem Fremden - leider, muß man sagen - viel zu gut bekommen ist.

Obwohl, oder gerade weil Mersault, nunmehr Madame Mersault, vom Start weg ziemlich derangiert wirkt: Kränklich schimmern die Rouge-Streifen auf ihren Wangen. Sie raucht, besser: sie pafft eine Gauloises, bellender Husten begleitet die fahrigen Gesten. "Rauchen ist Scheiße." Der Ton-Techniker, halblinks am Bühnenrand und irgendwie auch Teil der Inszenierung, hat Metallica aufgelegt - "Nothing else matters, der Song für den romantischen Headbanger. Madame erzählt. Zunächst über die Beerdigung der Mutter, die sie aufreizend pietätlos absolviert hat. Die Sprache plätschert - ein wenig monoton, ein wenig abwesend und ein wenig sentimental. Weitere Schlüsselszenen folgen - etwa jene berühmte über die Symbiose des Nachbarn mit seinem Hund - chronologisch synchron zur Textvorlage. Jedoch: Durch die kaum verfremdeten Monologe summt eine melancholische Melodie, welche die Prosalektüre hartnäckig verweigert.

Willkommen daheim, Fremde! Um den zeitlos leeren Camus-Text herum webt Siebert den po-warmen Chill-Out der Postmoderne. Werbespotschnipsel flackern auf der Tapetenleinwand, dann Film-Sequenzen eines gutbürgerlichen Mahls. Ein Dreikäsehoch referiert über Geopolitik, schlecht synchronisiert. Wahnhafte Sprechattacken Siebert/ Mersaults - wie Textschnipsel aus Beauty-Magazinen - über Brustvergrößerung und Faltenverkleinerung signalisieren Aktualität und das Bemühen, frauenbezogene Entfremdungsmotive einzuflechten. Aber selbst autoaggressive Ausbrüche und abseitige Choreographien versöhnen durch die Hintertür. Im Kontrast klingt Mersaults Rede leicht emphatisch, fast sympathisch. Und immer wieder dröhnt Rock'n Roll aus dem Off, wie das Nachbeben eines mythischen Golden Age.

Wir hören wohl den Sound einer verlorenen Zeit, da der Mensch noch wußte, welcher Realität er entfremdet war. Oder hat sich Camus' Text beim Ausflug auf fremdes Bühnen-Terrain einfach verirrt? Das Monströse an diesem Manifest der Teilnahmslosigkeit, das die einsame Lektüre zur beklemmenden Prüfung machen kann, wirkt im theatralen Rahmen domestiziert, ja relativiert. Die Anti-Heldin Mersault degeneriert so zum armen Tropf, sie wird uns fremd im fremden Genre, eben weil plötzlich subtile Identifikation möglich wird. Wo Mitleid ist, ist auch ein Stückchen Heimat.
Klemens Vogel

Der Fremde, nach einem Roman von Albert Camus, Theater zerbrochene Fenster, Schwiebusser Str. 16, 27. - 31.1., 20 .30 Uhr

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