Ausgabe 01 - 2000berliner stadtzeitung
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Geldvernichtung am Ende der Edelmeile

Weitgehend entspannt: Die Dramaturgen der neuen Schaubühne im Gespräch

Die beiden Dramaturgen im Leitungsteam der der neuen Schaubühne am Lehniner Platz, Jens Hillje und Jochen Sandig, zeigten sich beim scheinschlagGespräch gelassen und redselig - als wären sie weit davon entfernt, für den (neben dem BE) meistbeachteten Theater-Relaunch dieses Jahres verantwortlich zu sein. Ingrid Beerbaum und Klemens Vogel hörten den beiden zu.

Ihr wirkt ja noch ganz entspannt oder habt ihr den Lagerkoller schon hinter Euch?
Hillje: Also mein Problem ist, daß ich jähzornig bin... Ich kann nicht taktisch mit Aggressionen umgehen, muß das immer zurückhalten.
Sandig: Also, so einen richtigen Anfall haben ich bei dir noch nicht erlebt.
H: Doch, zwei hatte ich schon. Es gibt ja positiven und negativen Streß. Negativer entsteht, wenn du nicht weiterkommst, gegen Wände rennst. Positiver Streß ist mit Erfolgserlebnissen verbunden. Wir hatten einige Monate eine Sondersituation, da wir nur vorbereitet haben. Dann kamen endlich Leute, die Karten kaufen wollten.

Wart ihr euch da nicht sicher?
S: Du hast immer die Panik, daß niemand kommt. Daß die Baracke und die Sophiens¾le voll waren, heißt ja nicht, daß es hier auch automatisch funktioniert. Gerade die Bedenken, ob das "alte Schaubühnenpublikum" kommt, waren enorm.

Auch Bedenken, daß das alte Publikum aus Mitte den Umzug nicht mitmacht?
H: Klar, beides. Und wie sich beide Klientelgruppen vertragen, wenn sie in einem Raum aufeinandertreffen.

Heterogenität ist also erwünscht. Aber ihr werdet immer mit einer bestimmten Szene in Verbindung gebracht, mit den Klischees der typischen Mitte-Kultur. Identifiziert ihr euch mit dieser Szene?
H: Also, laut einer Umfrage hatten wir das Idealpublikum: Hälfte Ost, Hälfte West. Halb unter, halb über dreißig. Die Baracke war in Mitte, unserem unmittelbarem Lebensumfeld. Hier am Lehniner Platz dagegen ist eine andere, spannende Welt. Berlin Mitte verändert sich.

Wird es langweiliger?
H: Ich finde das nicht mehr so inspirierend. Von der Ecke hier am Adenauerplatz hingegen bin ich begeistert. Etwa wie der Ku´damm auf den letzten 500 Metern umkippt. Zuerst voll die Edelmeile. Und dann bist du plötzlich in einer vollkommen billigen Ecke mit Solarium, Spielkasino. Ich beobachte diesen Westbezirk aus einer Verwurzelung mit Mitte heraus. Im übrigen: Wir sind das einzige produzierende Theater hier.
S: Wir wollen uns mit der Umgebung auch künstlerisch auseinandersetzen. Sasha plant ein Projekt "Lehniner Platz". Es wird Projekte an unterschiedlichen Orten geben: in der Bowlingbahn, der Disko, dem Tennisplatz.

Fürchtet ihr nicht, daß ihr in den Verdacht kommt, nur Nachlaßverwalter einer großen Epoche zu sein?
H: Eben das ist ja Andrea Breth mit der alten Schaubühne passiert. Wir haben aber ein völlig anderes Ensemble, eine ganz neue, internationale Mischung von Leuten.
H: Eine Tradition der alten Schaubühne werden wir aber fortsetzen: Ein politisches Theater zu sein. Das geht heute nur, wenn ein gleichberechtigtes Tanzensemble dabei ist. Das ist neu an einem deutschen Theater. Im Zuge der postmodernen Kritik an der Moderne, dem Zweifel am Wort, an der Vernunft, existiert eine Sehnsucht nach Körperlichkeit.
S: Man wird keine Schauspieler erleben, die einfach nur Text aufsagen. Allen hier ist klar, daß man kein modernes Theater mehr machen kann, wenn man den Körper ausblendet.

Der Begriff Repolitisierung taucht häufig auf. Politik ist aber eher begrifflich, es wird viel geredet und diskutiert. Wie geht das mit Tanz zusammen, der ganz ohne Begriffe auskommt?
H: Sasha unterstreicht immer die politische Dimension der Arbeit mit dem Körper. Wir leben in einer völlig entpolitisierten Gesellschaft. Ideen zu ihrer Gestaltung gibt es nicht mehr, nur Verwaltung und Umsetzung von Sachzwängen. Die gemeinsame Basis fehlt. Repolitisierung heißt in diesem Zusammenhang, daß sich viele Leute treffen, um diese gemeinsame Basis zu finden.

Aber ihr wollt schon noch Politik machen?
S: Theater ist Politik! Wir haben uns als Ensemble die Aufgabe gestellt, Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität am Theater zu reflektieren. Das ist kein Formalismus oder totale Abstraktion, nicht leicht konsumierbar. Wir setzen auf Assoziationen. Da wird nicht direkt kommuniziert, die Aktivität des Zuschauers ist wichtig. Der Betrachter soll verändert aus dem Theater gehen.
H: Repolitisierung heißt verkürzt: Daß ich mein Unbehagen an den vorhandenen Zuständen beschreiben kann und daß ich anhand von den gezeigten Leiden und gescheiterten Leben Kraft und Bewußtsein gewinne. Ganz im Gegensatz zum hochsymbolischen Aktionismus der Volksbühne; da fehlt mir der Referenzrahmen.

Ihr steht mit euren Stücken in dem Ruf, radikale Gegenwartsdramatik auf die Bühne zu bringen, keine Dinge für die Ewigkeit. Momentaufnahmen...
H: Die zwanziger Jahre waren eine Blütezeit der Zeitstücke. Deren Abwertung ist ein Phänomen der letzten Jahre, worin für mich die faule Wurzel der Entpolitisierung steckt. Wir suchen die stärkste Dramatik, die es im Moment gibt. Es soll aber kein tagespolitisch-journalistisches Theater sein.

Soll der Zuschauer penetriert werden?
H: Schon, aber nicht nur. "Shoppen und Ficken" ist extrem penetrant, es wir immer dasselbe wiederholt. "Messer in Hennen" hingegen läßt dich am Ende mit offenen Fragen zurück. Was ich faszinierend finde: Wir leben am Ende der Repressionsgesellschaft. Es gibt weniger Neurosen, Depressionen treten häufiger auf. Wir haben weniger Schwierigkeiten mit Unterdrückung im Umgang mit festen Regeln. Heute ist die Repression anders organisiert: Enormer Leistungsdruck, Schönheits - und Jugendlichkeitswahn. Du mußt stark sein.

Also löst der Markt die Moral ab?
H: Ja, aber das bringt nicht weniger Leiden und Schmerzen hervor. Und zurück zum Theater: Es rührt schon durch seine Form den Grundtabus der Gesellschaft. Es ist archaisch und uneffektiv, eine Form der Geldvernichtung mit Produktionsbedingungen aus dem 18. Jahrhundert.

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