Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Zeremonienmeister

Anfang der 90er Jahre war Johannes Gross vom Wirtschaftsmagazin Capital in eine Berliner Talkshow eingeladen. Aber man unterhielt sich nicht über Wirtschaft, sondern Gross' Thema an diesem Abend war die geschmacklose Kleidung der Berliner Bevölkerung. Sein eigener Anzug war mit einem auffälligen, großgepunkteten Einstecktuch versehen. In der Moderatorin musste er einen Schlüsselreiz ausgelöst haben: Sie übertrafen sich beide gegenseitig in ihren Schilderungen über schlechtsitzende Anzüge und veraltete Mode, über Trainingshosen und Turnschuhe. Vermeintlich unter Gleichgesinnten konnte ihr Ekel ungehindert seinen Lauf nehmen.

Mitte der 90er sollte der Fernsehmoderator von B1 seine Garderobe umstellen. Die Zuschauer beschwerten sich inzwischen, wenn er wie sonst mit Rollkragen vor die Kamera trat. Hemd und Krawatte hieß es nun.

Ende der 90er wurde zur Pressekonferenz ins Restaurant Borchardt eingeladen. Eine Buchpräsentation zur Berliner Gesellschaft war angekündigt. Es wurde voll. So voll, dass selbst die Pressefrau des Verlages darüber verwundert war. Außerdem gewann man den Eindruck, dass fast alle in ihren Kleiderschränken nach den besseren Stücken gesucht hatten.

Die beiden Herausgeber hatten zusätzlich die Chefredakteurin eines Lifestyle-Wirtschaftsmagazins eingeladen. Von ihr wurde so etwas wie eine übergreifende, analytische Betrachtung zur Berliner Gesellschaft erwartet. Zur Überraschung der Anwesenden drängte sie sich sofort selbst in den Vordergrund und definierte sich als ein Mitglied der Berliner Gesellschaft. Und attestierte den Journalisten im gleichen Atemzug, ebenfalls die "Eintrittskarte" zur Berliner Gesellschaft in der Tasche zu haben - sonst säße man nicht hier im Borchardt. Danach perlten Wörter wie Einladungspolitik, Gästeliste, Ranking, Beliebtheitsskala, Kempinski-Sauna, Global-Jet-Set durch die Reihen und verloren sich in der immensen Höhe des Raumes. Die Journalisten erschienen ein bisschen überrumpelt von der Tatsache, mit welcher Selbstverständlichkeit die Selbstinszenierungen ausgebreitet wurden. Oder sie hatten sich tatsächlich schon auf den Weg in die Berliner Gesellschaft begeben und prüften nun, ob sie nicht an der falschen Ecke abgebogen waren.

Der Inhalt des Buches ist eindeutig. Vier Fünftel nimmt die Zeit vor 1945 ein und verbreitet sattsam renommierte Namen wie Scheffler, Kerr, Fontane, Graf Kessler, Tergit etc. Das restliche Fünftel besteht aus rasenden Mitläuferartikeln zu den 90er Jahren. Einzig Annett Gröschner entzieht sich dem. Das Vorwort klärt auf, dass nach heutigen Maßstäben Berliner Gesellschaft in der Zeit zwischen 1935 und 1989 nicht existiert habe, allenfalls in kleinen, nahezu verborgene Zirkeln. Folgerichtig wird das Hotel Adlon als wiedergefundener, symbolischer Ort der Berliner Gesellschaft gefeiert, es verkörpere "in seiner historisierend-eklektischen Architektur und seinem Ambiente jene ,neu-alte' Mischung, die so signifikant für Stimmungs- und Bewusstseinslagen in der Stadt" erscheine.

Nach der Pressekonferenz fährt man in der U-Bahn zwischen den ausgebeulten Trainingsanzügen nach Hause und stellt sich dem angekündigten Neuen: Die Zeiten der unbeschwerten Freiheit sind vorbei. Von Zeremonienmeistern war wieder die Rede.
R.L.

© scheinschlag 2000
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