Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
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Die Reise nach Jerusalem

Ein Stuhl zuwenig: Annette Fugmann-Heesing fliegt bei der Senatsbildung raus
Ansonsten dreht alles weiter im Kreis

Berlin hat eine neue Regierung. Doch obwohl mehr als 60 Prozent der Wähler die Neuauflage der CDU/SPD-Koalition gewählt haben, hält sich die Begeisterung in Grenzen. Die sonst als jubelfreudig bekannten Berliner hielten sich mit Ovationen und Hoch-Rufen auf den neuen Senat zurück, denn das Ergebnis der Regierungsbildung war schon längst klar - schon vor der Wahl. Im Wesentlichen bleibt alles wie bisher. Inhaltliche Kontinuität ist angesagt.

Postengeschiebe

Dass das Aushandeln der Koalitionsvereinbarung zwei Monate dauerte, lag nicht an inhaltlichen Meinungsverschiedenheiten. Es ging hauptsächlich um die Besetzung der Senatssessel, deren Zahl auf höchstens acht begrenzt wurde. Die CDU kam der SPD dabei teils weit entgegen, weil sie fürchten musste, dass sie ihren Juniorpartner verprellen könnte und sie somit allein eine Minderheitsregierung stellen müsste. Die SPD wollte hingegen kein Juniorpartner sein, sondern gleichberechtigte Regierungpartei: Ihr Landesvorsitzender Peter Strieder forderte vier der acht Senatorenposten, was angesichts des SPD-Wahlergebnisses von 22 Prozent etwas vermessen klang. Die PDS bewunderte Strieders mathematisches Geschick und wollte prüfen lassen, ob demnach nicht auch die Opposition rechnerisch Anspruch auf einen Senatorenposten hätte.

Reduktionssoll übererfüllt

Ernsthaft wollte die SPD aber nicht von der Macht lassen und opferte letztlich sogar mit der Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing eines ihrer Aushängeschilder. Aus Gründen der Parität wurde das Plansoll der Senatsverkleinerung sogar übererfüllt: Der Senat besteht nur noch aus sieben Senatoren und dem Regierenden Bürgermeister, der - o Wunder - weiterhin Eberhard Diepgen heißt.

Die drei SPD-Senatoren erhielten zum Teil erheblich größere Ressortzuschnitte: Peter Strieder übernimmt auch den Bereich seines bisherigen CDU-Kontrahenten Jürgen Klemann und ist nun Senator für Bauen, Stadtentwicklung, Wohnen, Verkehr und Umwelt (was nicht nur den Briefkopf sprengen wird). Das vereinigte Gesundheits- und Sozialressort wird von Gabriele Schöttler geführt. Klaus Böger übernimmt als dritter SPD-Senator den Bereich Schule, Jugend und Familie von Ingrid Stahmer. Die Senatsverwaltung für Finanzen leitet Fugmann-Heesings bisheriger Staatssekretär Peter Kurth (CDU). Christa Thoben folgt Peter Radunski als Kultursenatorin, Eckart Werthebach und Wolfgang Branoner bleiben in ihren Ämtern als Innen- bzw. Wirtschaftssenator. Das Amt des Justizsenators ist abgeschafft, die Aufgaben wurden Diepgens Senatskanzlei zugeordnet.

Frauenquote gesenkt

Die Senatsmannschaft ist damit wieder männlicher geworden. Waren bisher vier von elf Regierungsmitgliedern Frauen (36 Prozent), sind es jetzt nur noch zwei von acht (25 Prozent). Zudem leiten die Senatorinnen nur "typisch weibliche" Ressorts: Soziales und Kultur.

Der Inhalt der Koalitionsvereinbarung ist in weiten Teilen der gleiche wie vor vier Jahren. So soll bespielsweise im Bereich Verkehr in der Innenstadt weiterhin eine Verkehrsaufteilung von 80 Prozent Bus und Bahnen zu 20 Prozent Auto erzielt werden. Obwohl dieses Bekenntnis schon seit 1996 offizielles Senatsziel ist, stieg der Autoanteil auf mittlerweile 70 Prozent - eine Bankrotterklärung der Berliner Verkehrspolitik. Der bisher folgenlose Beschluss zur Straßenbahnbeschleunigung wurde ebenfalls wiederholt. Am Bau der teuren Verlängerung der U5 Unter den Linden wird ebenso festgehalten wie an der Teltowkanal-Autobahn, der Stadtringverlängerung nach Friedrichshain, der B101 durch Lankwitz und dem überdimensionierten Großflughafen in Schönefeld.

"Überprüfung" der Stadterneuerung

Im Bereich Stadterneuerung gibt es allerdings besorgniserregende Tendenzen. Sanierungsgebiete sollen "mit dem Ziel der Aufhebung oder Reduzierung überprüft" werden. Mietobergrenzen sollen nur "kurzfristig" gelten. Zudem soll im Osten der Stadt der belegungsgebundene Wohnraum reduziert werden. Weitere Wohnungsbaugesellschaften sollen verkauft werden.

Der Senat sieht in alldem offenbar keinen Widerspruch zu seinem proklamierten Ziel, die Probleme in benachteiligten Stadtteilen dadurch zu lösen, dass der Wegzug der angestammten Bevölkerung verhindert wird. Um die soziale Stadtentwicklung scheint es schlecht zu stehen. Und das, obwohl die Zuständigkeit dafür nun allein in Strieders Ressort fällt, dessen Partei mit dem Schlagwort "soziale Stadtentwicklung" exzessiv Wahlkampf betrieben hat.

Konservativer Argwohn

Aus welchen Gründen konservative Kreise den neuen "Super-Senator" Strieder beargwöhnen, erscheint dagegen eher drollig. Dass mit ihm ein Stadtschloss-Gegner nun auch Bausenator ist, versetzt die "Gesellschaft Historisches Berlin" in Angst und Schrecken. Und die Berliner Morgenpost befürchtet, Strieder könnte Berlin nach seiner Privatmeinung "verunstalten", indem er die Berliner zwingt, "mit Tempo 30 über die zentralen Hauptstraßen zu schleichen", und ihnen verbietet, "das Gefühl zu genießen, mit dem Auto durch das Brandenburger Tor zu fahren". Fürwahr ein Horrorszenario. Nur wird Strieder die Bleifußfraktion in der Verkehrsverwaltung nicht so einfach austauschen können: Für Beamtenapparate wie Senatsverwaltungen gilt das Gesetz der Trägheit der Masse ganz besonders.

Spannend wird die Frage, wen der CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus-Rüdiger Landowsky künftig für unpopuläre Entscheidungen verantwortlich macht - nun, da die böse Sparkommissarin Fugmann-Heesing nicht mehr da ist und die CDU selbst den Finanzsenator stellt. Wer wird Landowskys neuer Lieblingsfeind? Wetten werden noch entgegengenommen.

Ansonsten darf man in den nächsten fünf Jahren keine Überraschungen erwarten.
Jens Sethmann

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