Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
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Durchgangszimmer Prenzlauer Berg

Alte und neue Mythen auf dem Prüfstand

Lychener, Schliemann, Duncker - Fengler, Burger, Mosaik. Wie aufgequollene Gelatine verdicken mittlerweile selbst kleinere Versatzstücke den Mythos "Prenzlauer Berg" zu einer sich langsam verfestigenden Masse. Auch der Halbeingeweihte, der Hinzugekommene der neunziger Jahre, meinte es vor allem gut, wenn er sich auf den verbürgten Insider-Spuren der achtziger Jahre durch den Bezirk bewegte. Auf keinen Fall wollte er als oberflächlicher Voyeur abgestempelt zu werden. Doch eine Grenze blieb: noch so viel Nachempfinden und Einfühlen verhalf ihm nicht zum "Dabeigewesensein".

"Szenebezirk", "Künstlersammelbecken" sind die gröberen Vereinnahmungen, die der Prenzlauer Berg aushalten muss, wobei die Zuschreibungen bruchlos in die Jetztzeit verlängert werden. Erzählt man in Ulm, "Ich wohne im Prenzlauer Berg", scheint die Sache irgendwie klar: Um einen rum müssen lauter aufregende Leute wohnen. Die Hälfte davon Künstler. Soll man da nochmal dazwischen gehen?

Barbara Felsmann und Annett Gröschner haben jetzt eine "Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften" zusammengestellt. Der etwas umständliche Untertitel gibt genau das Anliegen des Buches wider, möglichst unaufgeregt und nah am Alltag dem vielbeschworenen Künstlerleben so etwas wie Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der eigentliche Buchtitel "Durchgangszimmer Prenzlauer Berg" wird dagegen dem Episodencharakter des Unterfangens gerecht. Wie nicht anders zu erwarten, erzählt jeder der Interviewten seine eigene Geschichte. So resümiert der Dichter Richard Pietraß: "Als ich 1970 in den Prenzlauer Berg zog, gab es dort noch keine Szene. Der Kollwitzplatz war noch kein Begriff, das wurde er erst Ende der siebziger Jahre. Als andere dann anfingen, ihn schick zu finden, sah ich das alles sehr gelassen und mit einer gewissen Amüsiertheit. Ich betrachtete mich gegenüber den Jüngeren fast als Ureinwohner. Ich bin ja etwa zehn Jahre älter als die Szene-Generation, habe das alles aber interessiert verfolgt. Vielleicht mit einer Art Halbdistanz."

Gleichzeitig finden sich neben solch abgeklärten Beurteilungen Alltagserlebnisse wie die des Künstlers Wolfgang Krause: "Im Sommer 1973 besuchte ich Arila Siegert in der Oderberger Straße. Ich kannte Berlin nicht. Es faszinierte mich, mit der U-Bahn zu fahren, plötzlich wurde die U-Bahn zur Hochbahn, und ich kam da oben auf dem Bahnhof Dimitroffstraße an. Ich ging die Treppe runter und suchte die Straße. Ich hatte noch nie zuvor so eine abgewrackte Gegend gesehen und so enge Hinterhöfe. Der in der Oderberger 4 ist vielleicht 4-5 Meter breit und 7 Meter lang, und es standen dort 15 Mülltonnen, an denen die Kinder spielten. Das war schon eine herbe Sache." Heute würde man ihn dafür als romatischen Wessi-Studenten schimpfen.

Legt man am Ende das Buch aus der Hand, hat sich der Mythos Prenzlauer Berg von alleine verflüchtigt - zu vielfältig sind die Schilderungen. Stattdessen hat man Geschichten über Wohnungen, Kneipen, Arbeit, Träume, Ausreise, Kunst und Politik im Kopf. Setzt man diese in Beziehung zu einander, zeichnet sich so etwas wie eine geistige Infrastruktur des Prenzlauer Berges ab.

Aber vielleicht kann man sich allem auch einfach entziehen; so wie Manfred Krug in einem Fax lakonisch seiner Befragung eine Absage erteilte: "Vom Prenzlauer Berg habe ich wirklich nicht die geringste Ahnung. Wir wohnten dort, weil mir ein Laden zugewiesen wurde, den man zur Wohnung ausbauen durfte. Hätte es den woanders gegeben, wäre ich eben dorthin gezogen. Es gab nichts in der Gegend, was uns Heimat hätte sein können, nicht mal eine Kneipe. Das Anheimelndste war noch die Straßenbahn. Sie werden verstehen, dass es mir nach 35 Jahren zu anstrengend wäre, dem Reiz nachzuspüren, von dem dieser Stadtteil möglicherweise schon damals durchflutet war, ohne dass es uns aufgefallen wäre. Deshalb rechnen Sie mir die Absage nicht als Hochmut an..."
R.L.

Barbara Felsmann, Annett Gröschner, Durchgangszimmer Prenzlauer Berg, Lukas Verlag, Berlin 1999, 572 Seiten, 39,80 DM

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