Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
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Armutsmetropole Berlin

"Die andere Seite der Stadt" - Armut und Ausgrenzung in Berlin aus ethnologischer Sicht

Berlin hat zwei Seiten. Mit großem Marketing-Getöse demonstriert die Stadt "Hauptstadtfähigkeit", spielt Metropole und inszeniert Glanz, Glamour, Luxus und Weltniveau. Auf der "anderen Seite" sind in Berlin 17 Prozent arbeitslos und 150 000 Haushalte auf Sozialhilfe angewiesen. Andere fallen gänzlich durchs soziale Netz und werden von keiner Statistik mehr erfasst. Die Zahl der Wohnungslosen wird auf bis zu 50 000 geschätzt. Jede neunte Familie mit Kindern lebt unterhalb der Armutgrenze. Es ist eine soziale Polarisierung eingetreten, die noch in den achtziger Jahren undenkbar war.

Da Armut statistisch nur unzureichend erfasst werden kann, haben sich Ethnologiestudentinnen und -studenten an der Humboldt-Universität zu einem zweijährigen Studienprojekt zusammengefunden, um Armut und Ausgrenzung aus volkskundlerischer Sicht zu erforschen. Dabei ist ein umfassender Bericht entstanden, der nun von der Projektleiterin Michi Knecht als Buch herausgegeben wurde.

Die Studierenden mussten sich auf die manchmal nicht ganz einfache Suche nach (objektiven oder subjektiven) Armen und Ausgegrenzten machen. Die Betrachtung des Einzelfalls steht immer im Mittelpunkt. Mit Interviews und teilnehmender Beobachtung gelingen den Autoren beeindruckende Einblicke in das Leben derer, die nicht zum "Neuen Berlin" gehören.

Um die sozialräumliche Abwertung der auf Abriss stehenden Wederstraße, die der Neuköllner Autobahnverlängerung mittlerweile weichen musste, zu erforschen, zog Patrick Baltzer eine Zeit lang selbst in diese todgeweihte Straße. Daniela Haslecker wurde selbst zur Stammkundin eines Frauenfrühstücks in einer Beratungsstelle für wohnungslose Menschen, um über das Leben obdachloser Frauen zu berichten. Peter David und Falk Hoysack besuchten täglich eine Pankower Imbissbude, um das Vertrauen der dort den Tag verbringenden Alkoholiker zu gewinnen.

Als Vertreter der so genannten "neuen Migration" erzählen bosnische Flüchtlingsfamilien, russlanddeutsche Aussiedler und zwei aus Ghana und Rumänien illegal Eingewanderte von ihrem Alltag in Berlin. Mit weiteren Beiträgen über Straßenkids, Aussteiger, das Obdachlosentheater "Unter Druck", eine Wagenburg und über ein Wohnprojekt der Obdachlosenzeitung "motz" scheint das Spektrum der Armut weitgehend abgedeckt. Die Zusammenstellung der individuellen Lebensgeschichten wirkt dabei viel eindrucksvoller als alle alarmierenden Sozialstatistiken, an die man sich schon viel zu sehr gewöhnt hat.
js

Michi Knecht (Hg.): Die andere Seite der Stadt - Armut und Ausgrenzung in Berlin, Böhlau-Verlag, Köln 1999, 347 Seiten, 38 DM

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