Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
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Das Böse in Verkleidung der Selbstlosigkeit

Nicky Silvers "Die Altruisten" in der Studiobühne des Maxim Gorki Theaters

Altruimus ist, wenn ein Mensch das Glück von anderen über seine persönlichen Interessen stellt, "die dem Egoismus entgegengesetzte sittliche Einstellung, für andere zu leben", sagt der Brockhaus, obwohl man nie einen Text so anfangen soll. Ist aber besser für die Bildung. Altruisten sind demzufolge Menschen, die die Welt retten wollen im Stillen, die dem Rest der Menschheit nur das erdenklich Beste angedeihen lassen wollen. Wahrhafte Revolutionäre wären wohl auch als Altruisten zu bezeichnen. Wie der Herr heißt, darf sich jeder aussuchen. "Altruisten" ist auch das jüngst im Maxim Gorki Theater erstaufgeführte Stück von Nicky Silver, dem wir schon "Fette Männer im Rock" verdanken.

In "Altruisten" geht es nun wie immer im Theater um Sex und Crime und Intrigen; und zwar bei dieser ganz besonderen Spezies Mensch.

Sex: Die Seifenoperdarstellerin Cibyll lebt mit dem Berufsstraßenkämpfer Ethan zusammen und hält nebenbei noch seine diebischen Freunde aus, die gerne in ihrer Wohnung abhängen und sich im Dienste der Weltrevolution besaufen und mit Drogen aller Art vollstopfen. Ihr Bruder ist Sozialarbeiter und hat gerade einen drogensüchtigen Stricher aufgegabelt, in den er sich hemmungslos verliebt und der bei ihm bleiben soll. Außerdem ist er der Betreuer der Demostrationsjüngergang.

Crime: Cibyll (Beata Lehmann), die Seifendarstellerin, bekommt eines Morgens einen Anfall und schießt auf ihren noch im Bett liegenden Geliebten. Nur, daß der in einem anderen Bett liegt bei der vermeintlichen Lesbe Sydney (Anna Steffens). Deren Freundin Audrey kommt nicht. Dabei wollen alle auf eine Demo, für die noch Mollys und Stinkbomben gebastelt werden müssen. Und keiner weiß wofür oder wogegen gerade marschiert werden soll. Irgendwann treffen sich Cibyll und Ethan in der Wohnung des Bruders Lance (Andreas Bisowski). Beide leben noch, denn Ethan war inzwischen in der Wohnung und hielt seine Freundin für die Tote. Es kommt jedenfalls heraus, daß die Tote Audrey ist. Und keiner will Schuld sein. Die Darstellerin kann ihre Fans nicht allein lassen, sagt sie. Der Rest war es nicht und will auch nicht den Kampf aufgeben, wofür oder wogegen auch immer. Intrigen: Also wird, wie immer das schwächste Glied geopfert. Der Stricherjunkie wird unter einem Vorwand zum Tatort geschickt, die Polizei gerufen. Und die Welt ist wieder in Ordnung.

Die kleine Bühne des Maxim Gorki Studios ist in drei Verschläge aufgeteilt, die die einzelnen Lebenswelten repräsentieren. Weiß für Cibyll, durcheinander für Audrey und winzig mit Kühlschrank für Lance. Dazwischen können sich die Schauspieler frei bewegen, und manchmal greift eine Welt in die andere über oder wird kommentiert.

Cibyll in Blondperücke und lachsrosa Designer-Zweiteiler ist eine überdrehte Zicke, die sich eher mit sich selbst ("Ich brauche neue Brüste") als mit der Weltrettung beschäftigt. Ständig hibbelig und kreischend ist sie der Anfang allen Übels, die aber die revolutionäre Parasitenwelt am Leben hält. "Wir brauchen ihr Geld" sagt Ethan zu Sydney, bevor diese auf sie losgehen kann.

Zu Beginn erzählt Lance von seiner Kindheit und Jugend, in der alles hellblau gewesen ist: Man weiß, diese müßte für glücklich gehalten werden, zwei Eltern, zwei Kinder, drei Autos. Lance wurde Sozialarbeiter, ist linkisch und unsicher. "Saubere Bettwäsche für alle", davon hat er mal geträumt.Und tut sich den Stricher auf, will ihn vergöttern und umerziehen in seinem Wohnklo. Seine restlichen sozialen Kontakte knüpft er durch die Arbeit mit den "pseudolinken Hooligans", so Cibyll, der einzige Gegenentwurf zum "Bösen in Verkleidung der Selbstlosigkeit", kurz bevor sie vermeintlich auf Ethan schießt. Man könnte meinen, die Frau hätte Nietzsche gelesen. Sie scheint aber einfach nur den größten Durchblick zu haben unter all den immer wieder Stinkbomben-Kindergeburtstag feiernden Protestlern. Und dann ist da noch die in Ethan verliebte Sydney, gebrochen, ein bißchen dumm und naiv, jedoch voller Tatendrang (wunderbar gespielt von Anna Steffens), die man einfach nur trösten möchte. Überhaupt ist das Ganze knallig aber glaubhaft inszeniert von Peter Wittenberg. Natürlich ist auch jeder Wiedererkennungseffekt beabsichtigt. Und den Schauspielern macht das augenscheinlich Spaß.

Nachdem die "Störung" beseitigt ist, kann der Kampf für die gerechtere Welt wieder aufgenommen werden, und endlich ist auch jemandem nach langem Herumtelefonieren der Demozweck wieder eingefallen. Es geht um einen zu Unrecht eingekerkerten Jungen, der nun zum Tode verurteilt werden soll. Wie gut, daß es noch solch selbstlose Zeitgenossen gibt.
ib

Maxim Gorki Theater (Studiobühne), Am Festungsgraben 2, nächste Vorstellungen: 20.,29. Dezember 1999 und 1., 2., 4., 5. Januar 2000, jeweils 20 Uhr

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  Ausgabe 12 - 1999