Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Last Exit Mitte

Die Straße sei für die Durchfahrt gesperrt, was als Begründung reichen müsse - der Ton des Polizisten war barsch und unhöflich, weiter hinten standen gepanzerte Limousinen, einige mit Blaulicht, eine trug den Stander "Deutsch Griechisches Symposium", es regnete etwas, in der Durchfahrt des "Maxwell" drückte sich Personenschutz. Ein Restaurant für Krawattenträger jenseits der Prokura, sofern sie in großen Firmen sind. Die graubraunen Hausfassaden der Nachwendezeit hatten schon meist längst dem Gelb der farblosen Investoren Platz gemacht. Die letzte Nacht in der Straße, wo man fast vier Jahre gewohnt hatte. In der Wohnung warteten die Kisten auf den unweit geparkten Transporter, dessen Schlüssel in der Hosentasche war. Die Türen noch schief und verzogen, die Decken niedrig wie bei einer Schwarzwaldpension und die neuen Thermopanefenster, die die WBM hatte einsetzen lassen, als sie vor ewigen Zeiten noch Geld und Sorge hatte für ihre Häuser. Das Bett, was man mitnehmen würde und auf dem im Sommer der älteste Mann im Haus mit Herzattacke gelegen hatte bis denn der Notarzt kommen würde, seine fünfzig Jahre, in demselben Haus, ein Mann über Neunzig. Die alten Nachbarn kümmern sich um ihn, während im Haus Andere gehen, den Stadtteil verlassen - fort, zu neuen Ufern, die sich wieder erobern und ruinieren lassen.

Der andere Alte, fünf Straßen weiter, hatte es geahnt, bitter beschworen mit der Klarsicht, die aus einem langem Leben stammt. Weißhaarig und würdevoll redete er, in seinem Café, das auf die obligate Musikbeschallung verzichtete. Feilitzstraße, Schwabing, das waren die Namen die er nannte, früher, aus seinem Augenschein, vor der Olympiade 1972, als das graue, teilweise enggebaute und kriegsbeschädigte Schwabing so aussah wie Berlins Mitte nach der Wende. Eine Zeit als Schwabing mit seinem Park und den kiffenden Hippies swinging wie London oder San Francisco war, in den Sechzigern, als sich die ersten Straßenkrawalle der beginnenden Unruhe in den Straßen Münchens abspielten - in seinen Worten schwang die Enttäuschung über die party people von damals nach, der Ruin eines Stadtteils, der ihre Auftauchen später folgte, die immergleichen Bierschuppen für die Gäste der Computer- und Hightechbranche ringsum, die Straßencafés, vor denen BMWs, Porsches und Lamborghinis parkten, weil angesichts der Rechnung drinnen das Knöllchen an der Windschutzscheibe nur eine Formsache ist, die Feilitzstraße heute, mit den bordellartigen Billigdiscos für die Standardabzocke in der Nähe - der durchdringende Blick des Alters, dem die Fassaden der Jugend nur ein müdes Lächeln abtrotzen, sah kommen, was da geschehen würde.

Man möchte sie nicht sehen und auch nicht sprechen, die neuen Urbaniten, mit ihrem auf persönlichen Nutzen ausgerichteten Interessenkontingent - weil die Zeit verschwindet, in der die Straßen, wenn man in ihr schlendert wie die Flaneure des 19.Jahrhunderts, immer wieder die Möglichkeit bieten, daß sich etwas ereignet, ein Gesicht, ein Gespräch, oder auch nur, daß man inne wird über den Gang der Zeit und die Abfolge der Generationen, die hier ihre Spuren hinterlassen hatte - daß der Sommer in einem Straßencafé offene Zeit war, die Gesichter der Passanten, ein Hund, der lange ein geparktes Auto umschnüffelt, eine Traumreise, wie auf der Düne mit dem Bretterschuppen, unter Palmen gegenüber der weite Streif der arabischen See: ein breiter Strand, ein Meer von Kokospalmen und Hainen, die mit Reisfeldern und hie und da mit Bäumen mit Luftwurzeln erfüllt waren. Der Himmel war wolkenlos und azurblau, weiter ab am Strand lagen die Katamarane, mit denen die Fischer auf das Meer hinausfuhren. In diesem Café, dem Bretterschuppen, ließ sich der Tag verträumen bis das Blau des Himmels und des Meeres sich tief in die Seele eingefressen hatten.

Kiffen tat der wohlhabend gewordene Mann, der dort auch verkehrte, nur noch in dem bewachten Gelände des Bungalowkomplexes, bei zugezogenen Fenstern und angestellter Klimaanlage: Indiens Polizei hatte ein drakonisches Regime errichtet, in der Stadt spielte schreckliche Musik in beleuchteten Bars für die Gäste der neu errichteten Hotelcompounds, die den Einwohnern teilweise in buchstäblicher Hinsicht das Wasser abgruben. Goa in den Achtzigern, das war der Sicherheitstrakt für Pauschaltouristen, das kommende Ibiza: Auch Ibiza war einmal das hippe Freakbiotop gewesen, lange bevor es Interkontinentalflüge gab und allenfalls der Wolfgangssee, wenn nicht der Gardasee Fernziel des normalen Deutschen waren.

In der klassischen Tourismusbranche gelten die Rucksacktouristen als die Trendsetter, die ein kommendes Reiseland erschließen, millimeterweise eintröpfeln und dabei immer von der Gastfreundschaft der Einheimischen und der ungeschändeten Natur der Strände erzählen. Natürlich gehen Traveller nicht dorthin, wo die Vielen in ihren Hotelkomplexen sich von der Tourismusindustrie versorgen lassen. Nein, häufig werden Traveller mit Stolz die Orte erwähnen, die ursprünglich und voller "Spirit" sind, wo die Faszination einer Landschaft mit einer kulturellen "Authentizität" einhergeht. Morgens die Fensterläden öffnen, den Geruch von Kardamon und Minze, das Stimmengewirr auf der Straße und man taucht ein in den Kosmos der Beatgeneration, mit Tanger auf den Lippen, "Naked Lunch" auf dem Nachttisch... Vielleicht sind das dieselben Erlebnisse, die den ersten Koitus begleiten, die erste frische Haut, die erste zarte Liebe, die Augen, die soviel erzählen, wenn sie einen voller Scheu und Sehnsucht anblicken, mit der Intensität der Jugend, die in den Dingen ein Geheimnis sucht - aber im Endeffekt bleibt eine Spur der Deflorationserlebnisse zurück, die die Mädchen als Projektionsfläche für eigene Erlebnisse beläßt und ihre zukünftige Entwicklung als zu kommerzialisiert bedauert. Hand aufs Herz: Wer träumt nicht vom Aufwachen am Strand, Arm in Arm, mit Sandkörnern und Meeresrauschen im Ohr?

Oder nochmal, nochmal hip, nochmal in XY sein? (Montmartre der Zwanziger, Tanger der Fünfziger, Schwabing und Soho der Sechziger, Camden Town und Kreuzberg/Schöneberg der Achtziger, Berlin-Mitte Anfang der Neunziger). Was da beschrieben wird, ist eine imaginäre Landkarte, die Distanzierung und Fluchtbewegung bei gleichzeitigem absoluten Dabeisein zuschreibt, also einen Puls des Lebens definiert, der sich immer wieder neu irgendwo inkarniert und dabei die Geschichte der westlichen Gesellschaften, die in immer neuen Varianten dasselbe Spiel spielt, fortschreibt. Die Wunschproduktion des industriellen Kapitalismus fokussiert sich vor allem auf die kritische, noch nicht arrivierte "Kunstszene", die gleichzeitig Metapher geglückten Lebens und der Innovation ist, wobei dieses Wunschbild oft nur aus der sexuellen Attraktivität junger Menschen, Sozialhilfe und elterlichen Schecks besteht. Aber dieses Wunschbild schafft für einige den Einstieg in ertragreichere Formen der Verwertung, weil die Folie der angesagten Aktualität für jene blassen Existenzen teuer ist, die das Geld haben, sich Attraktivität kaufen zu können.

Für die Stadtviertel, in denen sich die "Szene" etabliert, bedeutet das den Auftakt zu um so rascherer Gentrifizierung. Wer in der Nachbarschaft plötzlich Kunstgalerien und angesagte Bars hat, als ältere Dame, mag sich zwar anfangs über die neuen, netten jungen Leute freuen, die ihre Wohnungen so schön herrichten, auch wenn sie ab zu laute Musik spielen. Längerfristig wird sie aber jene Yuppies neben sich haben, die von Sushibars und Kapitalertragssteuern reden, es sei denn der Tod oder eine Modernsierungsankündigung entfernt sie aus ihrer Wohnung - während die anderen, die neben ihr, der Topographie der Sehnsucht folgen, die Kreaturen der Nacht, den Aufbruch in die unendlichen Weiten der magischen Orte planen, von dem glitzernden Dunkel des Lebens, dem Puls der Veränderung, dem Klirren der Eiswürfel im Glas, den durchtanzten Nächten erzählen: bis am Morgen das Licht auf zerbrochene Flaschen und die weggeworfenen Zigarettenschachteln fällt und es einen braucht, der das wegfegt.
GMZ

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 12 - 1999