Ausgabe 11 - 1999berliner stadtzeitung
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Was wird aus Long John Silver?

Die Finanzierung der Weddinger Kinderfarm ist nicht gesichert

Long John Silver humpelt nicht mehr. Er verläßt den Futtertrog und trottet an das Gatter, um den Besucher in Augenschein zu nehmen. Dem Ziegenbock mußte das Bein gerichtet werden und durch die Pflege auf der Weddinger Kinderfarm an der Luxemburger Staße 25 ist er nun zu einem stattlichen Exemplar herangewachsen. Auch die Gans mit dem amputierten Flügel hätte woanders keine Chance gehabt. Und die todkranke Möwe wurde von den Pflegern ebenfalls zu einem Tierarzt geschafft. Auf der Farm haben sie jetzt ihren Platz gefunden.

Nicht die Tiere stehen jedoch im Mittelpunkt, sondern die Kinder, die täglich die Kinderfarm besuchen. Am Anfang gab es die Idee, den Kindern einen Zugang zur Natur zu ermöglichen, der über das bloße Anschauen der Tiere hinaus geht. Eine Erfahrung, die den Stadtkindern ansonsten verwehrt ist.

Unhaltbare Finanzsituation

Gegründet im Jahre 1983 und als pädagogisch sinnvoll anerkannt, befindet sich die Kinderfarm dennoch seit Jahren in Finanznot. Ausgestattet ist die Kinderfarm derzeit mit zwei vollen Stellen, die sich jedoch die drei Angestellten, ein Sozialpädagoge, eine Schäferin und eine Pferdewirtin teilen müssen. Bei einem festgestellten Finanzbedarf von etwa 250000 DM verfügt die Kinderfarm derzeit kaum über eine gesicherte finanzielle Grundlage. Gewährte der Bezirk in den Vorjahren wenigstens noch einen im Haushaltsplan ausgewiesenen festen Betrag, der zwar auch nicht die ermittelten Kosten deckte, so kam es im Jahr 1999 zum Eklat: Der Trägerverein sollte nach Aussagen des Vorstandes Klaus Sprengel schriftlich zusichern, sich mit den ausgewiesenen zu geringen Mitteln zufrieden zu geben. Das wollte man nicht und erhielt daraufhin überhaupt kein Geld, arbeitete aber zunächst weiter. Zwar bekam der Trägerverein dann gerichtlich bescheinigt, daß das vom Bezirk zurückgehaltene Geld jedenfalls für die tatsächlich geleistete Arbeit auch auszuzahlen sei, doch angesichts der Unterversorgung des Bezirkes in der Jugendarbeit ist dies für den Trägerverein eine unhaltbare Situation.

Kostengünstige Betreuung

Kaum verständlich ist dies vor dem Hintergrund der breiten Unterstützung des Projektes in der Bevölkerung und der sehr günstigen Kostenstruktur. Gutachterlich ermittelt wurde gemäß Aussagen des Vorstandes ein Kostensatz von 11,24 DM pro Kind am Tag - weit weniger als in Kitas, Jugendzentren oder vergleichbaren Einrichtungen. Auch wenn keine offizielle Wirtschaftlichkeitsberechnung von Seiten des Bezirkes vorliegt, wird auch dort davon ausgegangen, daß es sich um ein sehr günstiges Projekt handelt. Streit jedoch herrscht über die Art und Weise der weiteren Fortführung des Projektes. Die SPD brüstete sich zwar damit, die Mittel für die freien Träger im laufenden Haushalt zu erhöhen, weigerte sich aber zunächst, die Mittel für die Kinderfarm freizugeben. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sicherte dann den Betrieb: Für das Jahr 1999 übernahm der Verband zunächst die Zahlung der laufenden Gehälter auf Kreditbasis und sicherte die Forderungen der Sozialversicherungsträger durch die Übernahme von Bürgschaften. Die Finanzierung 2000 ist ungewiß.

Die Gerichtsentscheidung bot keine Grundlage für den Verein, unmittelbar vom Bezirk eine Erhöhung der Mittel zu verlangen. Zwar wird die vom Ausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgeschriebene Quote einer 10-prozentigen Versorung des Bezirkes mit pädagogisch betreuten Spielstätten nicht erreicht, hieraus ergibt sich jedoch für den einzelnen Träger kein unmittelbarer Anspruch.

Die Übertragung der Trägerschaft auf einen anderen Verein scheiterte, da mit den in Aussicht genommenen Trägern keine Einigung über die Übernahme des Personals erzielt werden konnte. Von Seiten des Trägervereins erhofft man sich nun eine Verbesserung der finanziellen Situation mit der Bildung des neuen Innenstadtbezirkes und einer günstigeren politischen Konstellation. Hierbei wird eine Unterstützung eher von Seiten der CDU als von Seiten der SPD, die andere Jugendprojekte favorisiert, erwartet.

Tierkontakt für Stadtkinder

Besucht wird die Farm von rund 70 Kindern täglich. Eine wechselnde Gruppe von ungefähr 40 Kindern übernimmt die regelmäßige Bertreuung der Tiere. Während der Schulzeit wird die Farm von Schul- und Jugendgruppen besucht, die dann in einer zweistündigen Führung ein wenig in den Alltag der Farm hineinschnuppern können. Die Tiere sind keine Exoten, sondern ganz gewöhnliche Gänse, Ponys, Esel, Schafe, Ziegen. Diese gehören auch auf industriell betriebenen Bauernhöfen nicht mehr unbedingt zum Alltag. Die Anekdote vom Stadtkind, das sich über das Ei vom Huhn und nicht aus dem Karton im Supermarkt wundert, mag Legende sein. Trotzdem kommen hier viele Kinder erstmals mit den Tieren in unmittelbare Berührung. Im Alter von sechs bis vierzehn Jahren haben sie die Möglichkeit, weitgehend selbständig die Pflege der Tiere zu übernehmen. Mit den Pflegern zusammen erstellen sie Pflegepläne und übernehmen dann im täglichen Umgang die Verantwortung für die Fütterung, die Reinigung und die weitere Versorgung der Tiere.

Für behinderte Kinder, die gelegentlich die Farm besuchen, bietet sich hier ein ganz neuer Zugang zu Tieren. Auch wenn nicht die Möglichkeit besteht, entsprechende therapeutische Arbeit zu leisten, konnten die Mitarbeiter schon häufig beobachten, wie auch Kinder, die zunächst schüchtern waren, dann auf dem Rücken der Tiere gelöster wurden und ihre Angst überwanden.

Neue Erfahrungen sammeln können hier auch die zunächst unfreiwilligen Mitarbeiter, welche von den Gerichten zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt, ihre Auflagen ableisten. Auch sie werden von den Pflegern im Umgang mit den Tieren unterwiesen und fügen sich dann gut in den Betrieb ein. In der Zusammenarbeit mit den ausländischen Kindern finden selbst Straftäter, die Delikte gegen Ausländer begangen haben, andere Umgangsmöglichkeiten, reißen häufig nicht nur ihre Zeit ab, sondern helfen auch im Anschluß noch freiwillig mit.
Ingolf Entrup

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  Ausgabe 11 - 1999