Ausgabe 11 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Integration durch Kommunikation

Als ich meine Weiterbildung angefangen habe, war ich noch neugierig, was mich in der Schule erwarten würde. Das legte sich schnell. In der ersten Woche hatten wir Kommunikationstraining. Man traute uns offenbar nach Jahren der Isolation nicht mehr zu, normale Gespräche zu führen. Ich habe mich gefragt, ob sie uns wohl in der zweiten Woche beibringen wollten, wie man sich die Schuhe zubindet oder wie man die richtige Kleidung auswählt, um unserer fortgeschrittenen Verwahrlosung entgegenzuwirken. Unser Kommunikationstrainer war ein betont gutgelaunter und selbstbewußt auftretender Mann, kaum älter als die meisten Schüler. Er wollte uns ständig dazu bringen, genau wie er zu werden. Das Wichtigste im Gespräch wäre nicht, was jemand sagt, sondern wie er das tut. Dazu müsse man vor allem an sich glauben, der Erfolg würde sich dann von selbst einstellen.

In der zweiten Woche sollten wir etwas über Multimedia-Grundlagen erfahren. Lehrer war diesmal ein Absolvent unseres Vorgängerkurses, der sich gebärdete wie ein alter Hase. Obwohl er ganz offensichtlich überhaupt nicht wußte, wovon er sprach und die Tätigkeit in der Schule seine erste in der Branche war, erklärte er uns ununterbrochen, wie wir zu sein hätten, um in der Branche Fuß zu fassen: Vor allem müßten wir individuell sein, kommunikationsfähig und innovativ. Angesichts dieser unaufhörlichen Schaumschlägerei beschlich mich langsam der Verdacht, ich sollte für eine Sekte angeworben werden. Fachliches hatten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehört.

Versuch autoritärer Integration

In der dritten Woche fing doch noch so etwas wie Fachunterricht an. Wir sollten alle für die Multimedia-Produktion relevanten Programme erlernen. Im Vorfeld war uns gesagt worden, alle Lehrer würden aus der Praxis kommen, es stellte sich aber heraus, daß die meisten den Vorgängerkurs besucht hatten. Die Schule bildet also Multimedia-Lehrer aus, deshalb muß sie auch ständig größer werden. Allein in der Zeit, in der ich dort war, hat sich ihr Raumbedarf verdoppelt. Aus dem zu schnellen Wachstum erklärt sich wohl auch die chaotische Unterrichtsplanung mit der wir mehr und mehr konfrontiert wurden. Gelehrt wurde, wofür gerade Lehrer aufzutreiben waren. Auf unsere Nachfragen, was denn weiter vorgesehen sei, wurde immer ausgewichen: das hinge von der aktuellen Softwareentwicklung ab. Währenddessen hat sich unter uns Schülern Unmut breitgemacht, der seinen Ausdruck in zunehmender Disziplinlosigkeit fand: Es bildeten sich Gruppen, die sich gegenseitig in die Anwesenheitslisten eintrugen und der Unterrichtsbeginn wurde individuell von halb neun auf zehn Uhr verlegt. Die Unterrichtsleitung sah sich deshalb dazu veranlaßt, gelegentlich Versammlungen einzuberufen, wo sie dann mit dem Arbeitsamt drohte, falls nicht direkt ab dem nächsten Tag wieder alle pünktlich wären. Wir hatten die vorherigen Ideologieschulungen aber verstanden und erklärten ihnen, gleitende Arbeitszeiten wären in der Multimedia-Branche üblich.

Integration durch Massenpsychologie

Auf der letzten Versammlung vor der Sommerpause wurden wir auf die Projektphase aufmerksam gemacht. Wir sollten uns in Gruppen zu je sechs Leuten zusammenfinden: ein Leiter, Konzepter und Programmierer sowie drei Gestalter. Es sei unbedingt darauf achten, daß sich unsere Projekte so nah wie möglich an der Realität orientieren, am Besten mit richtigem Auftraggeber. Dadurch würden sich unsere Vermittlungschancen nach Abschluß der Weiterbildung erhöhen. Wodurch wir nicht alles unsere Vermittlungschancen erhöhen konnten, unsere Aussichten auf dem Arbeitsmarkt mußten demnach völlig aussichtslos sein.

Die folgende Zeit bis zu den Sommerferien wäre für soziologische Studien eine wahre Fundgrube gewesen. Die meisten meiner Mitschüler stürzten sich wie wahnsinnig geworden aufeinander, um Projektgruppen zu gründen, Projekte zu entwickeln, andere für sein Projekt zu begeistern oder Auftraggeber zu suchen. Wer wollte, konnte jeden abend an irgendeinem Treffen dazu teilnehmen. Gruppen bildeten sich und lösten sich wieder auf. Seitens der Schule wurde diese Stimmung immer weiter angeheizt, wir sollten bis zur Sommerpause unsere Projekte vorstellen, dazu sollte bereits eine Konzeption vorliegen, obwohl derartiges im Unterricht noch gar nicht gelehrt wurde. Die meisten hatten sich in einen wahren Projektrausch gesteigert.

Integration durch Gruppentherapie

Nach den Sommerferien begann die erste Projektphase. Dazu wurde die Sitzordnung geändert, damit die einzelnen Gruppen zusammen sitzen konnten. Das sollte den Teamgeist fördern. Bald offenbarte sich die Hauptschwäche einer solchen Form von Weiterbildung: Es war alles nur Simulation. In einigen Projektgruppen entstanden Machtkämpfe, weil die Projektleiter sich als Chef aufspielten, ohne allerdings irgendwelche Sanktionsmöglichkeiten zu haben. Als diese Gruppen nicht mehr in der Lage waren ihre Streitereien untereinander zu klären, wurde von der Schule eine Schlichterin gestellt, die dann in Gruppengesprächen versucht hat zu vermitteln. Ich fragte mich allmählich, ob ich wirklich in einer beruflichen Qualifizierungsmaßnahme gelandet war oder nicht doch eher in einer Reha-Maßnahme für psychosengeplagte Pseudokarrieristen.

Vorläufiges Scheitern der Integration

In der folgenden Fachvertiefungsphase entglitt der Unterrichtsleitung endgültig die Kontrolle. Es war ein Kurssystem eingeführt worden und wir konnten uns aussuchen, in welchen Unterricht wir gehen wollten. Viele entschieden, entweder gar nicht mehr zu kommen oder den kostenlosen Internetzugang der Schule zu nutzen, um gecrackte Software aus dem Internet runterzuladen. Dieser Zustand legte sich erst Mitte Januar wieder, als die Zeit knapp wurde, die angefangenen Projekte zum Abschluß zu bringen. Kurzzeitig kehrte noch einmal eine ungewohnte Hektik in den Räumen der Schule ein; eine brauchbare Abschlußarbeit wollten fast alle abliefern. Das konnte aber auch nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß wir alle schon längst vollkommen genervt waren, sowohl von der Schule, als auch voneinander.

Integration durch Kostenlosigkeit

In der sowieso schon hektischen Endphase wurden täglich ein paar von uns von unserer Praktikumsbetreuerin ins Büro zitiert und dort "beraten". Natürlich sollten wir bei der Praktikumsstelle darauf achten, daß die Chance anschließend übernommen zu werden möglichst groß sei, die Vermittlungsquote im Anschluß an die Weiterbildung ist für die Schule das Wichtigste. Etwa ein Drittel nahm eines der Angebote, die bei diesen Gesprächen offeriert wurden, an, ein weiteres Drittel suchte sich selbst einen Praktikumsplatz, in der Hoffnung, dort übernommen zu werden, und der Rest wollte nicht ohne Bezahlung arbeiten und hat sich deshalb um eine Proforma-Stelle gekümmert. Besonders diejenigen, die sich auf einen Vorschlag der Schule eingelassen hatten, wurden von ihren Arbeitgebern nur als billige Hilfskräfte ausgenutzt, ohne etwas dabei zu lernen. Aber auch von denjenigen, die sich selbst, zum Teil sogar ganz interessante Praktikumsplätze gesucht hatten, wurde nur ein verschwindend geringer Anteil übernommen und das auch nicht fest, sondern als freie Mitarbeiter oder weiter als Praktikanten.
Søren Jansen

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