Ausgabe 11 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Maulkorb an der Humboldt-Universität?

Allgemeinpolitische Äußerungen sollen verboten werden

"Die Humboldt-Universität zu Berlin ist dem Reformimpuls, der 1810 zu ihrer weltweiten beachteten Gründung führte, in besonderer Weise verpflichtet. Der Name Wilhelm von Humboldts steht für die Erneuerung aus dem kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Anspruch des Menschen." Diese Sätze aus der Präambel der Verfassung der Berliner Humboldt-Universität werden in letzter Zeit besonders häufig von den Mitgliedern des ReferentInnenrates (RefRat), wie dort der AStA heißt, zitiert. Und das nicht ohne Grund. Der studentischen Interessenvertretung könnte schon bald den Maulkorb umgehängt werden.

Das würde geschehen, wenn das Gericht einer Klage von elf größtenteils im Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) organisierten Kommilitonen stattgibt, die dem ReferentInnenrat per einstweiliger Verfügung jegliche politischen Äußerungen untersagen lassen wollen. Zuwiderhandlungen sollen mit einem hohen Ordnungsgeld bestraft werden.

Im Sommer konnte der drohende Maulkorb noch einmal abgewendet werden, weil die von den Klägern vorgelegten inkriminierten Texte nicht auf dem neuesten Stand waren. Doch man hat fleißig weiterhin alle erreichbare Druckwerke durchforstet und ist fündig geworden. So ist in der ergänzenden Klageschrift das aktuelle Erstsemesterinfo "abc" ebenso aufgeführt wie der "freischüßler", das Zirkular des Arbeitskreises Kritischer Juristen an der Humboldt-Universität.

Eine Reihe von ASten haben mit den gleichen Problemen zu kämpfen, seit letztem Jahr auch der AStA der Freien Universität Berlin. Mal haben Vertreter des rechtsradikalen Studentenverbandes der Republikaner geklagt wie in Marburg, wo vor kurzem AStA-Mitglieder wegen politischer Äußerungen zu hohen Geldstrafen verurteilt wurden. Mal klagen rechtslastige Langzeitstudenten, wie der Münsteraner René Schneider. Der Jurastudent im 40. Semester hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, linke ASten zu verklagen. Mal war es die Einführung des Semestertickets, das angeblich die Chancengleichheit der autofahrenden Kommilitonen verletzt, oder eine Veranstaltung mit KZ-Überlebenden, das dem AStA ein Ordnungsgeld einbrachte.

"Letztlich ist jede Tätigkeit politisch und kann daher Anlaß zur Klage geben", meinte der Bremer Rechtsanwalt Eberhard Schultz auf einem Pressegespräch in Berlin. Der juristische Vertreter des RefRates wies auf den politischen Charakter der Maßnahmen hin: "In den 50er und 60er Jahren gab es keine Debatte um das politische Mandat der Studentenvertretungen". Damals waren die ASten fest in der Hand von Burschenschaften und Konservativen. An der Berliner FU diente eine AStA-Mitgliedschaft gar häufig als Sprungbrett für eine CDU-Karriere. Nicht nur Fluchthilfeaktionen aus der DDR wurden zu dieser Zeit vom AStA offen unterstützt. Der spätere Westberliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz erklärte gar in einer Rede vor dem Studentenparlament in den 50er Jahren die Verteidigung der westlichen Freiheit zur Angelegenheit aller Studierenden. Erst als sich im Zuge der Studentenbewegung linke AStA-Mehrheiten zustande kamen, wurde die Frage des politischen Mandats von Seiten der Konservativen auf die Tagesordnung gesetzt. Diese politische Gewichtung zeigt sich jetzt auch bei der Auseinandersetzung in der Humboldt-Universität, betonen Studentenvertreter. Der klagende RCDS hat bei den letzten Wahlen 5 Sitze im Studentenparlament gewonnen, die Linke Liste, ein pluralistischer parteiunabhängiger Zusammenschluß, bekam 14 Sitze und stellt den ReferentInnenrat.

Falls die Kläger Recht bekommen, was Eberhard Schultz vom juristischen Standpunkt für nicht unwahrscheinlich hält, sollen einige politische Projekte in Projekttutorien umgewandelt werden, damit ihre Weiterarbeit gesichert ist. Gemeinsam mit anderen Berliner ASten soll ein Gesetzentwurf erarbeitet werden, der nach dem Vorbild von Hessen und Nordrhein-Westfalen die Rechte der Verfaßten Studentenschaft auch in Berlin stärken sollen, erklärte RefRat-Mitglied Oliver Stoll. Daß die politischen Mehrheitsverhältnisse im Berliner Abgeordnetenhaus nach den Wahlen nicht unbedingt günstiger für solche Pläne sind, ist den Aktivisten allerdings klar. Ob sich die studentische Basis für die Verteidigung des RefRates mobilisieren läßt, ist fraglich. Schließlich herrscht nach dem letzten Studentenstreik vor zwei Jahren politische Funkstille an der Universität.
Peter Nowak

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 11 - 1999