Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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"Uns wird ein Chaos vor die Füße geworfen"

Bürgernähe wird auch nach der Bezirksreform in Berlin ein Fremdwort bleiben

Nun sind sie gewählt, die Bezirksverordnetenversammlungen. Mit der Wahl vom 10. Oktober sind auch schon die BVVen der Großbezirke bestimmt, die offiziell am 1. Januar 2001 zusammengelegt werden. Die Fusion der Bezirke ist nur ein Teil der Verwaltungsreform, das "Jahrhundertwerk", das sich der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen gern an die Brust heftet.

Die veraltete Verwaltungsstruktur, die noch aus dem Jahr 1920 stammt, als die Stadtgemeinde Groß-Berlin gegründet wurde, soll effizienter werden. Der Senat will sich künftig auf rein ministerielle Aufgaben beschränken. Die übrigen Arbeitsbereiche sollen in die Zuständigkeit der Bezirke fallen. Der Service für die Bevölkerung soll dadurch besser, schneller und bürgernäher werden.

Die jenigen der 23 Bezirke, die mit anderen Bezirken zusammengelegt werden sollen, sträubten sich zunächst natürlich. Doch die Aussicht auf einen kräftigen Kompetenzzuwachs versüßte den Bezirken den Verlust der Eigenständigkeit. Viel zu lange hatte man sich in den BVVen über die Angebotspalette des Getränkeautomaten im Rathaus oder über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Hissens einer Regenbogenflagge gestritten. In den wirklich wichtigen Fragen sind die Bezirke nur die ausführenden Organe des Senats. Unter den äußerst engen finanziellen Zügeln des Senats können die Bezirke allenfalls entscheiden, wie sie die sozialen Grausamkeiten verteilen.

Dass sich die Bürgernähe in der Verwaltung erheblich verbessern muss, will niemand bestreiten. Die zwölf neuen Bezirke haben jeweils eine Einwohnerzahl von 300 000, vergleichbar mit Großstädten wie Magdeburg oder Bielefeld. Eine bürgerfreundlichere Verwaltung soll durch die Einrichtung von insgesamt 60 dezentralen Bürgerämtern und durch die sogenannte Abschichtung von Senatsaufgaben in die Zuständigkeit der Bezirke erreicht werden.

Daran hapert es aber noch. Sicher kann man nur sein, dass die Fusion durchgeführt wird. Der Rest des "Jahrhundertwerks" ist völlig festgefahren. Die Zentralverwaltungen wehren sich mit Händen und Füßen gegen die Abschichtung und versuchen, sowenig Personal und Finanzen wie möglich an die Bezirke abzugeben. Bisher ist man sich nur über die Übertragung von vier Aufgabenbereichen an die Bezirke einig: die Autowrackbeseitigung, die Straßenreinigung, das zentrale Fundbüro, der amtliche Hunde- und Katzenfang.

Wie die Abschichtung des Pass- und Meldewesens vonstatten gehen soll, ist noch völlig unklar. Das Landeseinwohneramt (LEA) soll eigentlich nur noch eine koordinierende Kopfstelle sein, die Meldestellen werden an die Bezirke abgegeben. Doch das LEA ist bislang lediglich bereit, von seinen 1880 Stellen 548 abzugeben. Damit könnten die Bezirke kaum die Meldestellen betreiben, geschweige denn den Bürgerservice ausbauen.

Weil der Transfer von Sach- und Personalmitteln überhaupt nicht gelöst ist, meldeten sich die grünen BürgermeisterInnen Elisabeth Ziemer (Schöneberg), Jörn Jensen (Tiergarten) und Franz Schulz (Kreuzberg) zu Wort. Sie werfen dem Senat eine bewusste Verzögerung vor, während die Bezirke auf Hochtouren an der Reform arbeiten. Jörn Jensen beschleicht der Verdacht, dass die Verwaltungsreform nur ein Vorwand ist, den Bezirken mehr Aufgaben zu übertragen, aber nicht mehr Mittel. Wenn der Senat nicht schnell den Haushaltsplan für 2000 aufstellt, können die Bezirke im Jahr 2001 keine Bürgerämter einrichten, weil sie spätestens im Frühjahr 2000 die Finanzvorgaben des Senats brauchen, um ihre Haushaltsplanung für 2001 zu beraten. "Wir wollen funktionsfähige Behörden übernehmen und keine Torsos, für die dann die Bezirke verantwortlich gemacht werden", fordert Jensen. Seine Amtskollegin Ziemer ergänzt: "Uns wird ein Chaos vor die Füße geworfen, das auch als Chaos bei den Bürgern ankommen wird - und das können wir uns nicht leisten."

Als Mogelpackung hat sich auch die Verlagerung der Zuständigkeit im Bereich Bauen und Planen erwiesen. Zwar haben die Bezirke hier nun die alleinige Kompetenz, doch der Senat hat seine frühere Fachaufsicht durch ein Eingriffsrecht ersetzt. Im Fall des "Cuvrycenters" musste der Kreuzberger Bürgermeister Schulz erkennen, dass dieses Eingriffsrecht viel weitergehnd ist als die bisherige Regelung: Der Bausenator hatte dem Bezirk das Bebauungsplanverfahren mit der Begründung entzogen, das Projekt des Investors Botag sei von "außergewöhnlicher stadtpolitischer Bedeutung". Der Bezirk hatte dagegen geklagt und ist vor dem Oberverwaltungsgericht gescheitert, weil der Begriff "stadtpolitische Bedeutung" inhaltlich und rechtlich nicht überprüfbar ist. Kreuzberg musste daher die Entmündigung hinnehmen.

Dass der Bausenator sich mit einer so schwammigen Nicht-Begründung durchsetzen kann, zeigt, wie wenig Interesse der Senat an eigenverantwortlich handelnden Bezirken hat. Der städtebauliche Vertrag, den die Senatsverwaltung daraufhin mit der Botag ausgehandelt hat, enthält nicht eine einzige Mark für die soziale Infrastruktur - Folgekosten, die dem Bezirk aufgebürdet werden.
Jens Sethmann

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  Ausgabe 09 - 1999