Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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Der Stau in den Köpfen

Pläne für die Westtangente: Die Berliner Verkehrsplanung hat seit dreißig Jahren nichts dazugelernt

Verkehrsplanung wird in Berlin immer noch aus der Windschutzscheibenperspektive betrieben. Die Senatsverkehrsverwaltung sieht in den Staus und fehlenden Parkplätzen die Hauptprobleme und hat als Lösung nur "mehr Straßen" im Angebot: Stadtautobahnen, Innenstadtring, Transversalen, selbst die schon totgeglaubte Westtangente geistert weiter in den Köpfen der Verkehrsplaner umher

Die Bauherren am Potsdamer Platz, die Daimler-Chrysler-Tochter Debis und Sony, fürchten, dass es am Ausgang des Tiergartentunnels auf den Landwehrkanal-Uferstraßen zu Staus kommt, und fordern daher eine kreuzungsfreie Straßenverbindung von dort zum Autobahnkreuz Schöneberg. Unterstützt wird diese Forderung von der CDU und dem ADAC.

Diese vierspurige Straße wird im CDU-Wahlprogramm "leistungsfähige Stadtstraße" genannt, ist aber faktisch eine Autobahn. Sie folgt exakt dem Verlauf der seit den sechziger Jahren geplanten Westtangente. Nachdem die schon fast legendäre Bürgerinitiative Westtangente (BIW) diese Pläne 17 Jahre lang zäh bekämpft hatte, wurde die Westtangente mit der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und SPD im Jahr 1991 offiziell begraben.

Die Wiederauferstehung der Westtangente erinnerte die BIW daran, dass sie auch nach ihrem 25-jährigen Jubiläum noch gebraucht wird. Die Straße, die entlang der S-Bahnlinie 2 unter der Kolonnen- und Monumentenbrücke hindurch, über das Gleisdreieck-Gelände zur Tunneleinfahrt verlaufen soll, überzieht die Anwohner im Grenzbereich zwischen Schöneberg und Kreuzberg mit Lärm und Abgasen. Die früheren Pläne, den grünen Keil als Frischluftschneise für die Innenstadt freizuhalten und zu einem Park auszubauen, werden durch den Bau einer mehrspurigen Straße geradezu konterkariert. Statt Schöneberg und Kreuzberg mit einer Grünfläche zu verbinden, trennt die Westtangente die Stadtteile noch stärker voneinander.

Michael Cramer, verkehrspolitischer Sprecher der Bündnisgrünen, hat nach langjähriger Beobachtung eine Strategie erkannt: Nach dem Bau von Straßenteilstücken werden neue Lücken im Netz offenbar, die geschlossen werden sollen. Es entsteht ein vermeintlicher Sachzwang. Es werden Lücken gebaut und immer neue Sachzwänge produziert. Cramer fordert, dass die Verkehrsplanung aus der alten Logik ausbrechen muss.

Debis sorgt sich um die Erreichbarkeit der Potsdamer-Platz-Arkaden. Dass Kunden auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommen können, übersteigt offenbar die Vorstellungskraft des Tochterunternehmens eines Automobilkonzernes. Auf dem Daimler-Areal herrscht die Idylle einer verkehrsberuhigten Zone. Die Autolawine wurde ins Tiefgeschoss gelegt - die Autoabgase aus dem Tunnel werden durch den Turm mit dem grünen Debis-Würfel möglichst weit weggeblasen. Damit Daimler mit einer Scheinurbanität eine angenehme Konsumatmosphäre schaffen kann, soll die Allgemeinheit leiden.

Dass sich die Senatsverkehrsverwaltung überhaupt mit einem solchen Vorschlag beschäftigt, wirft ein Licht auf den Stand der Berliner Verkehrspolitik. Der Verkehrssenator gefällt sich beim ersten Spatenstich für die neue Autobahn A 113, deren Planfeststellung noch gar nicht abgeschlossen ist, lässt die A 100 quer durch Neukölln zum Ostkreuz bauen und will es den Bürgern als stadtökologische Wohltat verkaufen, dass die Deckelung der unterirdischen Autobahn am Britzer Damm begrünt wird. Ein Innenstadtring wird durch denkmalgeschützte Fabriken und ruhige Wohnstraßen geplant. Gleichzeitig wird die einzige für Radverkehr zuständige Stelle in der Verkehrsverwaltung gestrichen, der Ausbau des Busspurennetzes eingefroren, die Straßenbahnplanung behindert und sabotiert, wo es nur geht. Das S-Bahnnetz ist noch weit vom Vorkriegsniveau entfernt, die BVG-Fahrpreise werden ständig erhöht und die Fahrpläne ausgedünnt. Ergebnis: Von der selbstauferlegten Forderung, den Verkehr in der Innenstadt zu 80 Prozent mit Bussen, Bahnen und Fahrrad abzuwickeln, entfernt sich Berlin immer weiter.

Der SPD-Verkehrspolitiker Christian Gaebler bringt es auf den Punkt: "Der Stau existiert nicht nur auf den Straßen, sondern vor allem in den Köpfen der Verkehrsverwaltung."
js

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