Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
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Stadthirsch und deutscher Wald

Ein herbstlicher Dreisprung durch die Off-Theater-Szene

Das Theater im Kino (tik) hat passend zur laubigen Jahreszeit den deutschen Wald nach Friedrichshain geholt, jenen mystischen Ort, wo die Dichter schon seit alters her zwischen modernden Blättern und toten Hirschkäfern nach der deutschen Seele stochern. Die ist ja meistens waidwund, und da passt es glänzend, daß im Stück Jagdzeit der Hamburger Autorin Gundi Ellert grünes Volk mit Schießprügeln durchs Unterholz räubert. Sie sind auf der Jagd - aber auf wen? Bei der Rast lockern sich die Stammtischzungen, wobei die Waidleute die kredenzten Dauerwürste wie Talkshow-Mikros vor der Brust halten. Durch ein Gespinst von alten Rechnungen schimmert die reale Gefahr für die Dorfgemeinschaft hindurch: Diebe und Geschäftemacher gehen um. Was die Strategen im Unterholz nicht ahnen: Nicht unschuldig ist die eigene, verderbte Brut. Die Kids zocken nicht nur munter den Notgroschen der Alten sondern ziehen im Gemeindeforst täglich Gewaltrituale ab, die jenen in Goldings "Herr der Fliegen" zur Ehre gereichen. Die etwas schwerfällige Kathi landet in einer Blechtonne, pathetische Schwüre lassen das Eichenlaub erzittern und der charismatische Führer Robert analysiert trocken das Problem des Underdog: "Vinzenz, in dir wohnt das Schwache wie ein Tier." Die jungen Schauspieler lassen sich effektvoll von der Leine, es wird verachtet und fertiggemacht, gekrochen und gebuckelt, und selbst ein Small-Talk zwischen den weiblichen Bandenmitgliedern gerät zum verbalen Pogrom. Das Patriarchat behält in dieser Zivilsationsparabel die Zügel fest in der Hand, auch als am Ende ein laubfauler Kompromiss jung und alt wieder an einen Stammtisch bringt. Gewinner und Verlierer können bei Charles Darwin nachgeschlagen werden. Das Einzelschicksal als Story interessiert daher nur bedingt, weswegen die 2 1/2 Stunden etwas lang werden, doch die situationale Dichte vieler Szenen aus emotionsloser Bosheit und einsichtsloser Emotion trifft und rüttelt immer wieder auf: Einer geht noch...
...einer geht noch rein: Auch das Theater Fürst Oblomov hat sich zwischen Eichen, Birken und Buchen umgesehen und ein Werk-Tandem auf die Bretter gebracht, mit dem unvermeidlichen Goethe (gab´s den eigentlich wirklich, oder hat den die Weimarer Marketingabteilung erst erfunden?) am Lenker und hintendran dem Dichter Thomas Brasch. Der hat in jungen Jahren zu DDR-Zeiten die Jugendsünde des Meisters, das Stück "Satyros", adaptiert und auf den Sozialismus umgestrickt. "Satyros und Herr Geiler" heißt die Kopulation der beiden dramatischen Ergüsse. In der Hoffnung, daß Minus mal Minus Plus ergibt, erklärt der Begleittext: "Die beiden Stücke ergeben gemeinsam gewissermaßen eine Goethe - Brasch - Wiedervereinigungs-Uraufführung". Gewissermaßen, ja. Wie siamesische Zwillinge streifen die beiden Dramolette auf der Oblomov-Bühne durch dunklen Tann´ und unschuldig´ Dorf (respektive LPG), und zwar in Gestalt des Fauns Satyros und des (zum Urkommunisten berufenen) Apparatschiks Geiler. Der verdoppelte, vitale Einzelgänger, animalisch, eloquent und potent, erklärt den schnöden Alltag aus Kräutersammeln und Traktor-Reparieren für beendet und streut die süße Droge libertinärer Ideologie unters einfache Volk. Gut, daß es noch den Eremiten gibt, der durch eremitische Weisheit die Sexmaschine als Hochstapler entlarvt. Der gewiefte Goethe-Biograph wird in dem Werk sicher den Zwiespalt zwischen (sexueller) Allmachtsphantasie und Vernunft reflektiert sehen, der gelernte DDR-Bürger im Remake versteckte Systemkritik entdecken. Aber welche Relevanz das heute, da Hedonismus und Promiskuität aus jeder Teewurstreklame hervorspringen und die DDR passé ist, noch haben könnte, vermittelt das Ensemble in einer vom Leistungsgefälle gezeichneten Darbietung nicht.

Kein Wunder , dass bei solchem Trouble im deutschen Wald das deutsche Wild in die Metropole und an den Trog der entseelten Postmoderne flüchtet: Dem Theater zum westlichen Stadthirschen gelingt mit Angriffe auf Anne des englischen Autors Martin Crimp eine elektrisierende szenische Matrix. Menschen debattieren permanent über einen Menschen, der Godotmäßig gar nicht in Erscheinung tritt. Anne eben, auch mal "Anni" genannt - oder einfach "any(body)"? Viele Szenen outen sich nach Art eines unvorhergesehen guten Witzes, etwa: Treffen sich Hitler, Sartre und Richelieu in einem Hotelzimmer. Wenn dann der mutmaßliche Sartre im unvergleichlichen Duktus des Intellektuellen die aus allen Mündern sprudelnde Anne als "sexy, ernst, persönlich" - dramatische Geste mit der Pfeife - "ja: hochaktuell" feiert, dann kribbeln die Schauer des befremdlichen Wiedererkennens von Alltagstheatralik. Die Sätze, deren Objekt nicht überprüfbar ist, wenden sich unversehens gegen die Sprecher. Dieses prätentiöse, aber swingende Dauerinteresse an der abwesenden Anne, die als entfremdender Hypertext die Dutzende von angedeuteten Charakteren wie magisch daran hindert, außer im Slapstick Persönliches auszutauschen, fügt sich zu einem Panorama des (medialen) Voyeurismus. Und Exhibitionismus: Unzählig sind die Gesten und Moden, die über den Laufsteg der Eitelkeiten stolzieren. Hoteldiener in Naziuniform, eine afrikanische Tourismusexpertin, Beduinen mit Spielzeugautos, ein Hirsch, große Jungs mit Lord-Nelson-Hüten - die Ideenmaschine versiegt in keiner Sekunde, wobei neben einer peniblen Choreographie die Vielfalt des Textumgangs beeindruckt: Fortwährend wird die Metaerzählung "Anne", die unter anderem Terroristin, Elementarteilchenfinderin, Massengrabinspizientin und Lebenskünstlerin ist, zu einem kleinen, unvergleichlichen Soziogramm komprimiert.
Klemens Vogel

"Jagdzeit" von Gundi Ellert,
tik - Theater im Kino, 28. - 30.10., 20 Uhr; 29000370

"Satyros und Herr Geiler", Goethe/ Brasch, Theater Fürst Oblomov, 28.10., 29.10., 18.11. - 20.11., 20 Uhr; 28096467

"Angriffe auf Anne" von Martin Crimp, Theater zum westlichen Stadthirschen, bis 30.10., Mi. - Sa., 20 Uhr; 7857033

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