Ausgabe 09 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1899

21. oktober bis17. november

Tingeltangel sind eine Berliner Spezialität, das Wort bezeichnet die volkstümlichen Singspielhallen. Ihren Namen leiten sie von dem Gesangskomiker Tange ab, der in der Singspielhalle Triangel sein lange populär gebliebenes Triangellied zum besten gab. Wie jede andere Art der Artistik haben auch die Tingeltangels ihre eigenen Agenten, die "Mädchenhändler" genannt werden, da sie fast ausschließlich Soubretten und Sängerinnen engagieren und höchstens noch Klamottenkomiker. Weil die jungen und hübschen Soubretten in einer besonderen Abteilung der Artisenbörse des Café Bauer sitzen, heißt diese Stelle der "Mädchenmarkt".

In den Tingeltangels herrschte immer eine übermütige Stimmung. Hier verkehren der kleine Handwerker, der Kaufmannsgehilfe, vorherrschend aber Studenten, junge und alte Semester. Wegen der weiblichen Bedienung wird der Tingeltangel fast ohne Ausnahme vom starken Geschlecht besucht.

Auf einem Podium, das keinerlei Dekoration aufweist, sitzen auf Stühlen die Chansonetten, meist 10 bis 20, und die Komiker. Immer eine oder einer von den Darstellern erhebt sich, wenn die entsprechende Nummer an der Reihe ist, und beginnt dann den meist sehr handfesten Vortrag, begleitet von einem Pianisten, der kurzweg "Kapelle" genannt wird. Die beliebtesten Lieder der Chansonetten sind: "Ich lasse mich nicht verführen, dazu bin ich zu schlau", "Wenn so die Frauengarde einhermarschiert", die "Gigerlkönigin" und "Ach wenn das mein Männchen wüsst, was mir da passiert!"

Der Klamottenkomiker singt Paukenverse, die an Paprika nichts zu wünschen übrig lassen. Allerdings noch gepfefferter sind die Couplets der Herren Salonhumoristen. Einer der Stars dieser Komiker ist André Schméw‡, dessen französischer Name mit den vielen accents von seinem Geburtstitel Gustav Schmetterwald nichts ahnen lässt. Trotz seiner zierlichen, fast zwergenhaften Gestalt versteht er sein Fach. Vereinshumoristen wie er können täglich, manchmal tage- und wochenlang an 3 bis 4 verschiedenen Stellen auftreten, und das bei sehr hoher Gage.

Am Anfang und am Schluss eines ordentlichen Tingeltangels wird von den Künstlern ein gemeinsamer Chorgesang vorgetragen, zu dessen Klängen sie einen Gänsemarsch auf dem Podium ausführen. Die begeisterten Zuhörer senden den Damen Porter auf die Bühne, der meist durch dunkles Berliner Bier vorgetäuscht wird. Je mehr Porter eine Dame trinkt, desto beliebter ist sie beim Tingeltangel-Besitzer, der mit "Herr Direktor" angesprochen werden muß. Für jeden getrunkenen Porter, das Glas kostet eine Mark, erhält die Chansonette 25 Pfennig Korkengeld.

Die bekanntesten Tingeltangel sind: Moors Academy of Music in der Friedrichstraße, die Gebirgshallen Unter den Linden, in der Kommandantenstraße die Silberhallen und das Elysium, der Kuhstall in der Elsasser Straße, der Primas unter den Königscollonnaden am Alexanderplatz, das Klosterstübl in der Neuen Königstraße. Letzteres nennen die Berliner "Klosterstiebel", leiten es also vom Wort Stiefel ab. Zu nennen sind noch das Servus in der Koppenstraße, das Böge in der Weinmeisterstraße und die Singspielhalle am Köllnischen Fischmarkt. Deren Direktor Franz Würfel wird von seinen Stammgästen nur Affenfranz genannt, weil er früher eine Varieté-Nummer als Affendarsteller gehabt hat.

Die Münzstraße ist eine beliebte Gegend für Nachtbummler, aber auch für Frack- und Tanzkomiker. Ob aus dem Wintergarten oder einer winzigen Hinterhof Schmiere, gegen 12 treffen sich die Artisten von Berlin N., S., O. und W im Café Königskrone Ecke Münz- und Kaiser-Wilhelm-Straße oder gegenüber in Carl Friebö´s Bierlokal. Otto Reutter und Robert Steidl sieht man ins Gespräch vertieft. Den Dichter Hermann Frey kann man dort zwischen den Stettiner Sängern mit ihrem Direktor Ferdinand Meysel erblicken oder mit dem viel belachten unvergleichlichen Paul Britton plaudern, trinken und singen.

Im oberen Saal von Friebö´s tagt auch ein Klub lustiger Artisten, deren 80 bis 90 Mitglieder verpflichtet sind, sich niemals die Hand zu geben, man klopft bei seiner Ankunft auf den Tisch. Alle Arten Artisten sind vertreten, und jede Nacht, wenn Friebö´s Polizeistunde hat, schlägt der Artistenvater auf die Tischplatte und gebietet Feierabend. Dann zieht er mit seiner Garde in die Königskrone, denn die hat länger auf.

Selig schaukelt Hermann Frey schließlich von der Münzstraße nach Hause zu seiner Landsberger Straße. Am Georgenkirchplatz in der Katharinenstraße klammert er sich an einen Laternenpfahl, da begrüßt ihn bei der aufgehenden Sonne ein Straßenfeger: "Guten Morgen, Herr Frey!" Noch am selben Tag, noch verkatert, schreibt Frey:
"Wenn ich morgens dann den Feger mit dem Besen seh/ Und die Straßenbahn, die macht bim, bim ... / Und es hasten auf und nieder / Neuer Tag und Leben wieder, / Ach, dann wird mir schlimm, so schlimm! / Jedesmal versprech ich mir, / Niemals mehr passiert das dir / Oh jeh, o jeh, o jeh! / Trotzdem wird die nächste Nacht / Doch so lange durchgebracht, / Bis ich den Feger mit dem Besen wieder seh / Bim! Bim!"
Falko Hennig

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