Ausgabe 07 - 1999berliner stadtzeitung
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Wenn Kinder auf dem Alex zelten

Die Innenstadt im nächsten Jahrtausend

Wie gerufen kam das erste richtig heiße Wochenende in diesem Jahr, als beinahe hundert Kinder und Jugendliche ihre Zelte auf dem Alexanderplatz aufschlugen. Fast war es wie an der Ostsee, denn in der Nähe wurde Beach-Volleyball gespielt. Wenn auch das Meeresrauschen mehr Autolärm war, zumindest die Sonne hielt sich an die Urlaubsregeln und brannte so erbarmungslos, daß man am liebsten unter die Bäume in den Schatten flüchtete. Weitläufig genug ist der Alex ja, um in der Innenstadt als Ferienziel erobert zu werden. Aber Campen in Sichtweite von Kaufhof und Straßenbahn? Die Kinder auf jeden Fall waren begeistert, zwischen den Samstagseinkäufern ihre Stadt in Beschlag genommen zu haben. Die Idee dazu kam von der "Kampagne familienfreundliche Mitte" - wenn auch nicht als wirkliches Ferienzeltlager geplant, sondern als 24stündiger Protest gegen die Kürzungen in der Kinder- und Jugendarbeit.

1000 Kinder freigesetzt Schon in diesem Jahr fallen die meisten Ferienaktionen mangels Geld ins Wasser. Was liegt da im wortwörtlichen Sinne "näher", als sich die Plätze zu nehmen, wo man sich aufhalten und spielen kann? Der Hintergrund des Protestes wird von viel weitreichenderen Problemen überschattet: Sämtliche freie Projekte der Kinder- und Jugendarbeit im Bezirk Mitte müssen zum Jahresende ihre Türen schließen. Von derzeit 18 Einrichtungen wird ausnahmslos keine einzige überleben und das hochgelobte nächste Jahrtausend erleben. "Wir haben nicht mal genug Geld, um unseren Pflichtaufgaben nachzukommen", so Mittes Jugendstadträtin Eva Mendl (PDS). Die acht kommunal organisierten Einrichtungen werden mit Ach und Krach überleben - und müssen theoretisch die annähernd tausend Kinder auffangen, die sonst Tag für Tag in den achtzehn anderen Einrichtungen betreut wurden.

Schicksal oder Geschick Dabei steht Mitte im Vergleich zu anderen Bezirken noch relativ gut da. Jedoch nicht, weil der Senat bei der Finanzzuweisung an diesen Bezirk äußerst wohlwollend gewesen wäre, sondern "weil man in Mitte aus anderen Bereichen die Mittel zusammengekratzt und in den Kinder- und Jugendbereich gesteckt hat", so Bezirksbürgermeister Joachim Zeller (CDU). Doch jetzt geht nichts mehr. Die Bürgermeister der beiden anderen Fusionsbezirke Wedding und Tiergarten verströmen bei diesem Thema eher Schicksalsergebenheit. Das, was Mitte noch vor sich habe, sei bei ihnen schon längst gegessen. "Tiergarten ist Kürzungen gewöhnt", so Bezirksbürgermeister Jörn Jensen (Bündnis 90/Die Grünen). Und Bürgermeister Hans Nisblé (SPD) aus Wedding prognostiziert für die Zeit nach der Fusion: "Besser wird´s auf keinen Fall", und diagnostiziert wundersamerweise ein derzeitiges, trotz Kürzungen, gleichbleibend qualitätvolles Jugendangebot in seinem Bezirk. In Mitte befürchtet man zu recht, daß das niedrigere Niveau der Maßstab für die künftigen Ausgaben im Kinder- und Jugendbereich sein wird.

Städtehopper und Alte Es scheint sich ein Teufelskreis zu entwickeln: Weniger Angebote für Kinder und Jugendliche in der Innenstadt bedeutet, daß weniger Familien in der Innenstadt leben wollen. Und je weniger Familien es gibt, desto dürftiger wird das Angebot sein. Die Zahlen scheinen dafür zu sprechen: Von 1997 bis Anfang 1999 verringerte sich im Bezirk Mitte die Anzahl der 0-15jährigen von 10 500 auf 8 500. Bei dieser Dynamik läßt sich leicht ausmalen, daß in naher Zukunft zwischen Koch- und Bernauer Straße die Single-Haushalte dominieren, die Städtehopper mal hier mal dort die Briefkästen in ihren Appartements und Penthousewohnungen leeren und eine gepflegte, wertschöpfungsorientierte Langeweile eingezogen ist. Westdeutsche Städte sind in dieser Hinsicht beispielhaft. Öde Innenstädte zum Einkaufen und Geschäftemachen - und Stadtrandsiedlung in Blickweite von Einkaufsparadiesen, -centern und -parks mit angeschlossener Großtankstelle.

Eigenheime für Familien Der Berliner Senat fördert derzeit kräftig den Eigenheimbau und damit die Eigentumsbildung in Vorstadtsiedlungen. Schon allein, um die Steuerzahler nicht ans Brandenburger Umland zu verlieren. Dorthin fließt auch das Geld, so z.B. in Schulen, das dann an anderen Orten fehlt. Für den Senat ist familiengerechte Stadtplanung gleich Eigenheimförderung. Dabei verfügen gerade junge Familien über wenig Einkommen und das geringste Eigenkapital. Das Reihenhaus ist oft erst dann bezahlbar, wenn die Kinder größer sind. Meist genau jener Zeitpunkt, wo der pubertierende Nachwuchs statt der Vorstadtidylle das Berliner Großstadtleben sucht. Ganz abgesehen davon, daß für Alleinerziehende und arme Familien Eigenheimbau sowieso nicht in Betracht kommt. Die müssen sich als "Übriggebliebene" mit den verbliebenen Sozialstrukturen in der Stadt zufriedengeben.

Ein einziger Heiko Dem Senat schien es lange unwichtig, daß der Stadt "die Kinder ausgehen". Die letzten 10 Jahre hat man vor allem damit verbracht, die Spielplätze für die Erwachsenen zu bauen, Fassaden am Potsdamer Platz zu errichten und sich dem Hauptstadtputz zu verschreiben. Der Nachwuchs konnte sehen, wo er bleibt. Doch eine Tatsache läßt sich nicht länger ignorieren: die Stadtbevölkerung wird immer älter. Der Alptraum eines Reservates für Alte und Yuppies droht.

Vor diesem Hintergrund müßten die Forderungen der "Kampagne familienfreundliche Mitte" auf offene Ohren stoßen. Es fehlen drei Millionen, um den jetzigen Bestand der Kinder- und Jugendarbeit in Mitte zu sichern. Sicher insgesamt immer noch zu wenig, aber die angekündigten Absenkungen bei den Zuweisungen des Senats an den Bezirk Mitte sind ein gesellschaftlicher Offenbarungseid: Kinder rechnen sich nicht. Kein Wunder, daß die Mitarbeiter der freien Träger verschiedenste Gegenrechnungen aufstellen: 10 Millionen werden beispielsweise für die neue Kita für Bundesbedienstete ausgegeben, der teure Durchbruch der Französischen Straße könne verschoben werden und, und, und. Es gehe vor allem darum, daß andere Prioritäten gesetzt werden und Kinder in Mitte gewollt sind. Bürgermeister Zeller formuliert es anschaulich: "Wir müssen es den Familien schwer machen, den Bezirk Mitte zu verlassen." Andernfalls heißen wirklich alle Streetworker in Mitte plötzlich Heiko, wie auf den gelben Flugblättern der Kampagne angekündigt. Nicht aus Einfallslosigkeit bei der Namensgebung, sondern weil nur ein einziger Streetworker übriggeblieben ist.
sas

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