Ausgabe 07 - 1999berliner stadtzeitung
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Alles sei ausgesprochen

Friederike Mayröckers radikale Prosa

Wenn es zutrifft, daß im Zustand der Kunst, mithin der Literatur, sich die gesellschaftliche Realität spiegelt, dann ist die sich in den neunziger Jahren verschärfende Regression auf unkompliziertes Erzählen und Leserfreundlichkeit im Sinne der Buchindustrie kein Zufall. Wo die Devise ausgegeben wird, Literatur müsse sein "wie ein prima Film" (Maxim Biller), die sogenannte experimentelle Literatur andererseits aber in selbstgenügsamen Leerläufen erstickt, richtet sich die Hoffnung auf Autoren, die dieser falschen Literatur etwas entgegensetzen können. Eine dieser raren Erscheinungen ist Friederike Mayröcker, die seit ihrem ersten Buch, Larifari von 1956 einen konsequenten Weg quer zu allen Moden und Gruppenbildungen gegangen ist. Ihr neues Prosabuch brütt oder Die seufzenden Gärten versucht der Verlag dem Käufer verzweifelt als "Liebesroman" unterzujubeln und leitet ihn damit in die Irre, denn Roman hat Mayröcker natürlich keinen geschrieben. Die äußere Form ist die eines Tagebuchs, die einzelnen Abschnitte sind jeweils mit einem Datum überschrieben. Aber das besagt nicht viel, erhält der Text, die Autorin weist darauf hin, doch erst im Laufe mehrerer Arbeitsgänge seine Gestalt. "(...) in dieser BUCHSTABENGEGEND ist alles möglich", heißt es an einer Stelle zutreffend, denn einmal mehr ist Mayröckers Assoziationswut atemberaubend, ihre Lust an Wortneubildungen und überraschenden Bildern, die sie immer wieder und rücksichtslos in hermetisch-unzugängliche Regionen hineintreibt - all das in einem poetischen Sog, der es eigentlich verbietet, zitierend Passagen aus dieser Prosa herauszubrechen. Dieses Verbrechen sei, um einen Eindruck zu vermitteln, aber dennoch begangen: "(...) also du mußt hochhalten einen aufrechten aufrichtigen: inbrünstigen Glauben an das zu Schreibende, nichts darf nebenher geschehen, 1 Durchrasen, Durchgaloppieren, mit geschlossenen Augen wie 1 Lunatiker, auf 1 Ziel das nicht zu erkennen ist, mit unseren Hörnern voran, in die schrecklichste unerschlossenste GEISTESWILDNIS hinein (...)" Im Hintergrund steht tatsächlich die Liebesgeschichte zu Joseph, dessen Antipode der treue Begleiter Blum ist, steht aber auch der Alltag der alternden Schriftstellerin, der ganz von ihrer Schreibarbeit geprägt ist, dem "Exzeß des Schreibens". Die Reflexion über die Bedingungen dieses Schreibens zieht sich durch das ganze Buch. Weil Schreiben und Lesen Mayröckers Leben ausmachen, sind Autobiographisches und poetologische Reflexionen derart ineinander verzahnt, daß eine Unterscheidung dieser beiden Ebenen sinnlos wird. Diese wahrhaft radikale Prosa geht in ihrer existentiellen Ernsthaftigkeit in jedem Augenblick aufs Ganze - eine Kunstanstrengung, die heute nicht ihresgleichen hat.
Florian Neuner

Friederike Mayröcker: brütt oder Die seufzenden Gärten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1998. DM 44

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