Ausgabe 04 - 1999berliner stadtzeitung
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Zivilisation mit neuem Gesicht

Der Krieg zerstört nicht nur Jugoslawien. Ein Blick aus Rußland von Stefan Melle

In Petersburg scheint das Leben fast zu sein wie immer. Nur die Ärmeren beschränken sich nach der Rubelabwertung noch mehr auf Brot, Kartoffeln, Weißkohl, Möhren. In Gesprächen wird die neue Krise nur kurz erwähnt, alle wissen auch so, was gemeint ist. Angesichts der eigenen Probleme bedeuten in der Welt ringsum höchstens die GUS oder Kredite des IWF etwas. Die Vorstellungen vom Westen prägen dessen Waren, Emigrantenberichte, das Fernsehen, die Phantasie. Danach teilen die Russen die Staaten der Welt in "zivilisierte", das ist der Westen, und "unzivilisierte", das ist Rußland. Als der Krieg auf dem Balkan begann, war die russische Öffentlichkeit gerade von der Frage paralysiert, ob ihr Generalstaatsanwalt ein korrupter Lump ist oder doch ein Held auf den Fersen des Präsidentenclans. Wer hätte da die zunehmende Militarisierung der NATO-Außenpolitik bemerkt? Und wer hätte überhaupt geglaubt, daß die "zivilisierten" Staaten einen Krieg beginnen im Namen der Zivilisation?

Als die NATO ihre Luftangriffe auf Jugoslawien beschloß, flog Premierminister Jewgenij Primakow gerade in die USA. "Mir scheint, Sie haben nicht alle Folgen ihrer geplanten Aktion bedacht!", warnte er von Bord aus die USA noch einmal deutlich. Dann kehrte er um, im Westen war man unangenehm überrascht und wünschte sich die gute alte Zusammenarbeit zurück. Doch der Kratzer an den Beziehungen war schon unwiderruflich, ein erstes Zeichen, daß für die Weltpolitiker der NATO-Staaten das militärische und moralische Abenteuer Jugoslawien in einem unfrohen Erwachen enden könnte.

Teile und herrsche

Denn die Wirkungen der Luftangriffe auf die öffentliche Meinung in Rußland reichen tief. Was in Jugoslawien geschieht, beziehen die Menschen auch auf sich. Die zuerst rein proserbischen russischen Fernsehkanäle zeigen zwar inzwischen auch dieselben grausamen Berichte aus dem Kosovo und den Flüchtlingslagern wie die NATO. Dennoch ist die Empörung der Russen über die Angriffe fast einhellig, nur in der Geschäftswelt hat sich Symphatie zum Westen erhalten. "So kann man keine Probleme lösen", sagen die meisten. "Lumpenpack, Hundesöhne", hieß es nach den ersten Berichten in der Petersburger Metro. Die Politiker sagten es anders: "Terroristen, Aggressoren, Barbaren". Ihre Argumente faßten schnell Fuß. Warum der Westen nicht auch die Türkei wegen der Kurden bombardiert, für Nordirland oder die Basken Autonomie einfordert, fragte nun fast jeder in Rußland. Jeder weiß zudem, daß auch Rußland vor ungelösten Autonomieansprüchen steht. "Hätte uns nicht der Westen in Tschetschenien bombardieren müssen?" Das Wort vom "Weltgendarm USA" aus dem Kalten Krieg machte wieder die Runde, und mehr Leute als je zuvor glauben, daß es berechtigt ist. Auch die Moskauer Massenzeitung "Komsomoljez" erkannte die "Formel des Krieges: Teile und herrsche."

Risse in der Welt

Viele teilen den Ärger des alten Diplomaten Primakow, der dem Westen vor allem den "Schlag gegen das nach 1945 entstandene Weltverständnis", die Zerstörung von Völkerrecht und UNO nicht verzeihen mag. Ein paar Anhänger finden sich auch für Kommunisten-Führer Sjuganow, der den Luftkrieg gar als "technokratischen Faschismus" bezeichnet. Schließlich sammelte auch Patriarch Aleksij II. seine Gläubigen und warnte außer vor der Gotteslästerlichkeit der Gewalt davor, "in der Welt mit zweierlei Maß zu messen". Bei der religiösen Verwandtschaft von Russen und Serben verwundert das nicht. Daß jedoch auch Weißrußland und sogar die Ukraine sofort ihren Atommachtsstatus erneuerten, zeigt nur, wie nervös auch dort der Krieg aufgenommen wird.

Jede Nachricht von Krieg fällt in Rußland auf besonderen Boden, spätesten aus dem Erfolg der ersten Ansprache von Präsident Boris Jelzin hätte der Westen das erkennen müssen. Da beschwor er die Erinnerung an die Leiden des letzten Weltkriegs, die ist in Rußland noch immer stark, als persönliches Gedenken ebenso wie als gesellschaftlicher Mythos. Ist sie im Westen vergessen? Viele Russen befürchteten sofort einen dritten Weltkrieg, und erst Jelzins Erklärung, "wir haben verschiedene Antworten auf die Angriffe erörtert und beschlossen, die härtesten Maßnahmen nicht anzuwenden", beruhigte sie etwas. Da bekundeten aber auch schon die ersten russischen Generäle ihre Kampfbereitschaft, forderte die KP Militärhilfe für Serbien, und der Rechtspopulist Shirinowskij warb gar für den Ausnahmezustand. Unter dem alten Plakat vom II. Weltkrieg "Mutter Heimat ruft!" schritten sie sogleich zur Sammlung freiwilliger Kampfgefährten für die serbischen Slawenbrüder.

Bislang hatte ihr düsteres Gebräu aus wirtschaftlicher Unzufriedenheit, Wiedergeburt der Orthodoxie und Sehnsuch nach alter russischer Stärke stets nur Minderheiten erreicht. Doch jetzt hat der Westen Öl in die Glut gegossen. Was die Propaganda aller Nationalisten und "Patrioten", dazu der Orthodoxie, nicht schaffte, scheint jetzt, durch den Krieg, nicht mehr unmöglich: ein "slawischer Staatenbund", eine wiederbelebte GUS, die Durchsetzung der Orthodoxie als Gemeingut. Der mythische "dritte Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus, zwischen Asien und Europa, Osten und Westen, auf den die Nationalisten und Altkommunisten schon so lange drängen, scheint jetzt, nach den Angriffen, weit mehr Leuten eine richtige Idee.

Kämpfen wollen sie beileibe nicht. Alle wissen, daß ihr Land weder einen Krieg braucht noch ihn durchstehen könnte. Vielmehr fürchten sie, sich plötzlich erneut hinter dem eisernen Vorhang wiederzufinden, so wie die Studentin Mascha, die in einer kleinen Petersburger Firma internationale Gütertransporte organisiert. Sofort bekam sie die neue Vorsicht westlicher Partner zu spüren, da verstand sie, daß die Bomben auch gegen sie gefallen sind. Und als die amerikanische Botschaft nach einem Anschlag die Visaerteilung einstellte, war das für viele Russen ein Schock.

Nun reden die Leute auch noch mehr von ihrer angeblichen "russischen Mentalität", die sie nicht lieben und doch verteidigen. "Rußland kann viel hinnehmen, gibt lange nach. Nur dann steht es irgendwann an der Wand, und da reagiert es auch", meint Raissa, eine ehemalige Universitätsdozentin für Deutsch. Der NATO-Angriff überrascht sie nicht, ihr fiel ein Satz von Anton Tschechow ein: "Wenn im ersten Akt eine Waffe an der Wand hängt, wird im letzen auf jeden Fall geschossen." Wie viele glaubt sie, daß "die NATO-Militärs zeigen müssen, daß sie und die Waffen ihr Geld wert sind". Was Raissa jetzt versteht: "Schade, es war doch ein Fehler, daß wir abgerüstet haben." Was sie nicht versteht, ist die "Selbstaufgabe" der deutschen Regierung.

"Da haben sich die Deutschen ja wieder mal ausgezeichnet", findet auch der Literat Boris Iwanow und spielt auf die Hitlerzeit an. Dabei liebt er die deutsche Kultur, ihre Schriftsteller und Philosophen. Als Publizist in der einstigen Petersburger Dissidentenszene versuchte er jahrzehntelang, Selbstbestimmung in die sowjetische Gesellschaft zu bringen. Aber anders als die meisten akzeptiert er auch jenes "Wolfsgesetz des Dschungels", das sein berühmter Kollege Alexander Sol-shenizyn jetzt in dem Balkan-Krieg sieht. "Man schlägt uns vor, in solch einer Weltordnung zu leben!", konstatiert Solshenizyn voll Zorn.

Es ist unübersehbar: Mit den Angriffen in Jugoslawien hat der Westen in Rußland nicht nur sein eigenes Ansehen schwer beschädigt, er hat auch sein Gesellschaftsmodell, die Demokratie, diskreditiert. Er hat seine Vorbildrolle, die ihm wegen seines wirtschaftlichen und technischen Vorsprungs voll Hochachtung zugestanden wurde, eingebüßt, und gerade diese Moderne und Modernisierung in Verruf gebracht. Sie verbinden sich in Rußland jetzt mit

der zynischen Selbstzufriedenheit der NATO ob ihrer treffgenauen Hochtechnologiewaffen. Mit den USA haben hier auch ihre Verbündeten, darunter Deutschland, für lange Zeit das Gesicht verloren. Wo überall auf der Welt gilt dasselbe? Und wer hat vorher überlegt, wie man solche Risse in der Welt wieder flickt?

Das Wichtigste

Während nun Rußland im Konflikt zu vermitteln versucht, richtet es sich auch schon auf das eigenständige Überleben ein - selbst hierin setzt sich die Position der Nationalisten nun durch. Wenn Außenminister Igor Iwanow sich mit einer "einpoligen Welt", in dem die Amerikaner alle Völker bestimmen, nicht abfinden will, und Primakow sich "wieder auf die eigenen Reserven besinnen" will, haben sie die Leute hinter sich. Jelzin findet, daß "Rußland nun in moralischer Hinsicht über den Amerikanern steht" und die Aktion der NATO "sich rächen wird". Das tröstet, aber beruhigt es auch? Die Russen beruhigt, daß bislang wenigstens ihre wichtigsten Politiker die Ansicht der Reformpartei "Jabloko" teilen: "Das Wichtigste heute ist, daß Rußland sich nicht in den Krieg hineinziehen läßt und die Fehler Milosevics verteidigt." Die Leute aber wissen auch genau, daß die Welt sich verändert hat. Die NATO hat einen Teufelskreis von Empfindlichkeiten und Rechthaberei geweckt. Die Gefahr ist nicht vorbei, im Gegenteil: Der nächste Krieg ist näher gekommen.

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