Ausgabe 04 - 1999berliner stadtzeitung
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Wir kommen doch nicht vom Mond

In Sachen Privatisierung und Abbau öffentlicher Einrichtungen ist man in England schon um einiges weiter vorangeschritten. Dort schrecken einige Stadtverwaltungen auch nicht mehr davor zurück, zentral gelegene Sozialwohnungsblocks zu entmieten und abzureißen, um sie als Bauland zu verkaufen. Die Privatisierungslawine hierzulande läuft dagegen gerade erst an.

Die Besetzung eines ungenutzten Freibades in London zeigt aber auch, wie in vielen der leerstehenden kommunalen Immobilien wieder Raum für Öffentlichkeit entstehen kann.

Das Schwimmbecken des idyllisch in einem ausladenden Parkgelände gelegenen Freibades "London Fields Lido" hat schon seit über zehn Jahren kein Wasser mehr gesehen. Die Spuren des Verfalls zeigen sich überall: An den Rändern und teilweise auch am Beckengrund erobern mittlerweile kleine Büsche und andere Pflanzen das Terrain. Die knappen Kassen im Bezirkshaushalt veranlaßten die Verwaltung des Ost-Londoner Stadtteils Hackney, das Bad zu schließen und dem Verfall preiszugeben. Eine Bürgerintiative bemüht sich seit Jahren erfolglos um eine Wiedereröffnung des Bades.

Gebadet wird im "London Fields Lido" zwar immer noch nicht , doch seit Sommer letzten Jahres ist dort wieder neues Leben eingekehrt: Nach einer "Reclaim the Streets" Straßenparty wurde das Bad besetzt, die ehemaligen Umkleidekabinen wurden zu improvisiertem Wohnraum umfunktioniert, auf dem Gelände oder im Schwimmbecken selbst finden Parties oder Konzerte statt. Einmal die Woche gibt es eine Volksküche, bei schlechtem Wetter im Heizraum in pittoresker Athmosphäre zwischen großen Wassertanks, Aggregaten und Heizungsrohren. Die verzauberte Atmosphäre bei Veranstaltungen im Becken selbst, an lauen Sommernächten, ist vielen aber am besten in Erinnerung geblieben.

Zusammenarbeit mit Anwohnern gesucht

Doch den Besetzern ging es nicht nur darum, ein romantisches Ambiente für eine bestimmte Szene zu schaffen: "Für uns war klar: Falls das Bad wieder als Schwimmbad geöffnet wird, verlassen wir das Gelände selbstverständlich. Bis dahin aber versuchen wir, soviel wie möglich zu erhalten und zu reparieren und es als Wohnraum und Treffpunkt zu nutzen", betont Rik, einer der Besetzer. "Wir haben auch ziemlich schnell den Kontakt mit der Bürgerinitiative und den Nachbarn gesucht und die Zusammenarbeit angeboten, wir kommen ja nicht irgendwo vom Mond, sondern sind ein Teil dieser Nachbarschaft."

Der Kontakt zu Nachbarn und der Bürgerintiative entwickelte sich gut. Als die Bewohner dieses Arbeiterviertels feststellten, daß die Besetzer das Bad nicht beschädigten und genau wie sie selbst an einer Verbesserung der Lebensbedingungen in der von Verarmungstendenzen geprägten Gegend interessiert sind, akzeptierten sie die Besetzer als neue Nachbarn. Die Besetzer wiederum bemühten sich, bei Veranstaltungen auf das Schlafbedürfnis der Nachbarschaft Rücksicht zu nehmen.

Bei einem "Tag der offenen Tür" im August letzten Jahres arbeiteten die Besetzer und die Bürgerinitiative zusammen. Selbst die Stadtverwaltung, die zwar einige Tage vorher den Besetzern über ihren "Park Manager" die Illegalität ihres Tuns mitteilen ließ, stellte dafür Werkzeug zur Verfügung.

Doch kurze Zeit darauf beendete die Verwaltung ihren Schmusekurs und schlug eine härtere Gangart ein. Die Räumung wurde angedroht, und da ein übliches Räumverfahren über das "County Court", das hierzulande etwa einem Landgericht entspricht, lange dauert, wurde gleich über die höchste Instanz, das "High Court", eine Räumung beantragt. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt. Das Gericht hielt den Besetzern zugute, daß sie sich gemeinsam mit den Nachbarn für eine Erhaltung des Geländes eingesetzt hätten.

Weshalb die Stadtverwaltung, die kein eigenes Nutzungskonzept für das Gelände vorweisen kann, gleich solch einen Druck ausübte, ist auch für die Besetzer schwer nachvollziehbar. Jacko, der vor einiger Zeit auch auf das Gelände gezogen ist, kann darüber nur spekulieren: "Daß die Verwaltung erstmal kooperativ ist und dann auf Hardliner macht, hängt sicher auch damit zusammen, daß dort die eine Abteilung nicht weiß, was die andere macht." Und Rik ergänzt: "Die Stadtverwaltung ist ein unglaublich umständlicher, bürokratischer und hierarchischer Apparat, in dem die einzelnen Abteilungen oft nicht miteinander, sondern sogar gegeneinander arbeiten."

Allerdings hat es diese Verwaltung trotz des gescheiterten Räumungsversuchs geschafft, einen Keil zwischen die Bürgerinitiative und die Besetzer zu treiben und damit die sich bislang sehr effektiv ergänzende Zusammenarbeit der beiden Gruppen zu stören: Vertretern der Bürgerinitiative wurde erklärt, daß die Stadtverwaltung gerne das Bad wiedereröffnen würde, dies aber leider nicht möglich sei, da es nun besetzt ist.

Das Ergebnis: Inzwischen lehnt ein großer Teil der Bürgerinitiative eine Zusammenarbeit mit den Besetzern ab. Der letzte "Tag der offenen Tür" lief dann auch auf getrennten Schauplätzen ab: Die Besetzer empfingen interessierte Besucher im Bad, die Bürgerinitiative informierte draußen vor dem Bad über ihre Pläne. Eine abstruse Situation, denn wollte die Stadtverwaltung das Bad ernsthaft wiedereröffnen, wäre es auch möglich, es innerhalb einer Frist von einigen Monaten zu räumen. Was aufgrund der Bereitschaft der Besetzer, bei einer Wiedereröffnung freiwillig zu gehen, ohnehin überflüssig wäre.

Durch Privatisierungen bald keine funktionierende Verwaltung mehr?

Für Rik ist das ganze Gebaren auch ein Anzeichen dafür, daß die Verwaltung durch Privatisierung und Aufsplitterung in immer undurchschaubarere Einheiten noch schwerfälliger und ineffizienter geworden ist: "Einerseits ist kein Geld da, um so ein Bad wiederzueröffnen, andererseits hat allein dieser Räumungsprozeß beim "High Court" enorm viel Geld gekostet. Und darüber hinaus bekommt die Stadtverwaltung danach nochmals eine dicke Rechnung. Es gibt nämlich im Rahmen der Privatisierungen keine städtische Rechtsabteilung mehr, stattdessen werden Fälle wie dieser von einer Firma berarbeitet, die mit der Stadtverwaltung einen Vertrag abgeschlossen hat und solche Dienstleistungen dann in Rechnung stellt.

Diese Privatisierung geht soweit, daß nun geplant ist, die Schulbehörde auszugliedern und durch eine Firma managen zu lassen. Schulen wären dann letzendlich privatwirtschaftlich geführte Einrichtungen.

Viele dieser Vorgänge sind Spätfolgen des Thatcherismus mit seinem radikalen Wirtschaftsliberalismus, mit der ja auch "New Labour" sympathisiert. Die zentralen Stadtverwaltungen in London und den anderen britischen Großstädten wurden unter Thatcher abgeschafft.

Mit der Einführung des "Poll Tax"-Systems, das heute unter anderer Bezeichnung immer noch existiert, mußten die einzelnen Gemeinden und Bezirke sich selbständig aus den in ihrem Bezirk erwirtschafteten Steuereinnahmen finanzieren, allenfalls ergänzt durch Förderprogramme der Regierung mit harten Auflagen. Armut in Bezirken mit einkommensschwacher Bevölkerung, wie hier in Hackney, wurde verstärkt, öffentliche Dienstleistungen und Einrichtungen wurden drastisch abgebaut, da die Stadtverwaltung ansonsten gezwungen wäre, die "Pro Kopf"-Steuerbelastung weiter zu erhöhen.

Verzweifelt wird dabei versucht, mit einer privatwirtschaftlichen Umstrukturierung und massivem Verkauf kommunalen Eigentums die Kassen zu entlasten. Die langfristigen Folgen für das Gemeinwesen gelangen dabei immer mehr aus dem Blickfeld. Rik ist pessimistisch: "Wenn dieser Prozeß so weitergeht, wird es bald keine funktionierenden, von der Öffentlichkeit kontrollierten Stadtverwaltungen mehr geben."

Neue Möglichkeiten

Trostpflaster hierbei ist lediglich, daß dadurch mehr und mehr Freiräume für neue Öffentlichkeit entstehen. Der mittlerweile immense Bestand an leerstehenden, ehemals von kommunalen Einrichtungen genutzten Immobilien schreit geradezu danach, in Beschlag genommen zu werden: Da nach englischem Recht nach wie vor das Besetzen von Gebäuden nicht illegal ist, wird mehr und mehr die Möglichkeit wahrgenommen, vormals öffentliche Gebäude für eine Art Gegenöffentlichkeit oder auch nur als Wohnraum zu nutzen .

Das Spektrum reicht hierbei von Aktivitäten wie der Besetzung des "London Fields Lido", bei der die Forderung nach einer Wiederaufnahme der ursprünglichen kommunalen Nutzung des Gebäudes eine wichtige Rolle spielt, über Zentren der Besetzerszene in ehemaligen Büchereien oder ungenutzten Kirchengebäuden, bis hin zu Besetzungen nur für die Dauer einer politischen Kampagne, wie etwa die "Toxic Planet"-Aktion vor einigen Monaten: Ehemalige Büroräume des Wohnungsamtes im Stadteil Islington wurden besetzt, um mit einer interaktiven Kunst-Aktion für eine Woche ein Forum zur aktuellen Debatte um die Einführung von Bio- und Gentechnologie in der Lebensmittelindustrie und der Landwirtschaft zu schaffen. Die Büros wurden dazu in einen Garten mit bizarren, aus Stoff gefertigten Mutantenpflanzen verwandelt.

Angesichts der nun auch bei uns in Deutschland aufkommenden Privatisierungswut und dem zunehmenden Abbau kommunaler Einrichtungen könnten auch hier bald neue Betätigungsfelder für entschlossene und findige Köpfe entstehen. Um die Schließung des Kinderbades im Monbijoupark in Mitte wird gerade gestritten. So könnte es auch in Berlin demnächst ein leerstehendes Schwimmbad im Park geben.
Michael Philips

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