Ausgabe 04 - 1999berliner stadtzeitung
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Let´s go gaga

Mit "Idioten" liefert Lars von Trier seinen ersten Dogma-95-Beitrag

Als "Film von, über und für Idioten" hat Lars von Trier seinen ersten unter Dogma-95-Bedingungen gedrehten Film bezeichnet. Anders als die brüskierte Kritikerschar beim Festival in Cannes sollte man ihm jedoch dankbar sein für eine solche Widmung, denn "Idioten" ist ein faszinierender Film über einen faszinierenden Versuch.

"Idioten" lebt so sehr von einer Unmittelbarkeit, daß er sich Zeit nimmt, mit länglichen Expositionen in die Handlung einzuführen. Zusammen mit der verschüchterten Karen, die mit großen Augen zusieht und selbst schweigsam bleibt, wird man mitten hineingeworfen in diese Ansammlung stammelnder, spastisch-zuckender Gestörter, die im Edellrestaurant bereits Gekautes wieder ausspucken und, um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, schon mal ohne zu bezahlen aus dem Haus geführt werden dürfen. Schneller als man denken kann, sitzt man mit Karen und den Jungs im Taxi und sieht zu, wie sich diese kringelig darüber lachen, wie pikiert die anderen Gäste waren. Erst jetzt wird klar, daß die Resaurant-Szene Teil eines Experiments war, in welches Karen langsam hineingezogen wird.

Stoffer, ein cholerischer Typ und der radikalste in der Gruppe, ist am offensichtlichsten durchdrungen von dem Wunsch, den S¿ller¿der Wohlstandsfaschisten eine Fratze zu schneiden und sie im Geiste zu bespucken. Er genießt die Demütigung, die er den bornierten Eigenheimbesitzern antun kann, wenn er sie zum mitleidigen Kauf eines trashigen Adventsgestecks zwingt.

Für die meisten geht es darum, "den Idioten in sich" zu finden, wie Stoffer Karen einmal erklärt. Das führt bei allen früher oder später zu ganz existentiellen Fragen.

Von Trier sucht in seinem Film von Anfang eine maximale Direktheit, die sich wiederfindet in den Ausdrucksweisen der scheinbar Schwachsinnigen, die er scheinbar porträtiert. Sie stöhnen, grinsen, zappeln, tatschen wie sie möchten, egal wo sie gerade sind. Handkamera und Mikro nehmen alles mit, was in ihrer Reichweite passiert. "Idioten" gibt vor, ein Dokumentarfilm zu sein, und läßt durch seine "Authentizität" ähnlich wie Vinterbergs "Das Fest", die Distanz, die man gegenüber fiktionalen Stoffen einnimmt, vergessen.

Was bleibt übrig, wenn man sich jeglicher stilisierender Form des Ausdrucks verweigert? Von Trier benötigt für die Beantwortung dieser Frage genauso ein künstliches Regelwerk (in Form des Dogma 95) wie die Idioten, die sich zunehmend darüber streiten, wer nun am korrektesten gaga spielt. Die Antworten führen in beiden Fällen zu gründlicher Ernüchterung bzw. Nüchternheit - und zu einem Realismus, der im besten Fall trotz seiner Künstlichkeit zu neuer Handlungsfähigkeit führt.
Markus Sailer

P.S.: Im übrigen bin ich dafür, die Synchronisation jeglicher Filme zu verbieten.

Idioten. DK 1998; Regie: Lars von Trier Kinostart: 22.4.

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