Ausgabe 04 - 1999berliner stadtzeitung
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Die Schande muß weg

Eine Bilanz der Walser-Debatte

Knapp zehn Jahre nach dem Fall der Mauer befindet sich Deutschland bereits wieder in einem gravierenden Umbruch, der sich seit wenigen Monaten rasant vollzieht.

Zum einen ist der Umzug nach Berlin in vollem Gang. Zum anderen ist mit der Wahl von Gerhard Schröder nicht nur die Ära Kohl zuende gegangen: Nun ist ein Kanzler aus der Nachkriegsgeneration an der Macht. Kein Wehrmachtsleutnant wie Helmut Schmidt, und auch kein Flakhelfer wie Helmut Kohl, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit die "Gnade der späten Geburt" für sich in Anspruch nahm. Zum dritten mischt Deutschland erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder mit Waffengewalt in der Weltpolitik mit.

Die Nachkriegsepoche, in der Politik in einem Dörfchen am Rhein gemacht und Deutschland von den Bündnispartnern mißtrauisch beäugt wurde, ist vorbei. Nicht nur Deutschland selbst hat sich an seine neue Größe und Bedeutung gewöhnt. Wieder mal sind wir wieder wer.

Angesichts einer so rasanten Entwicklung erscheint ein Buch wie "Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik" von Joachim Rohloff schon bei der Veröffentlichung seltsam antiquiert. Obwohl Walsers Friedenspreisrede erst vor einem halben Jahr gehalten wurde, obwohl die Diskussion darüber kaum abgeflaut ist, scheinen längst andere, realpolitische Ereignisse wichtiger zu sein. Rohloff, der als politischer Publizist von Berlin aus in "Konkret" und "Jungle World" veröffentlicht, hat diese Rasanz bei seiner Bilanz der Debatte nicht gekümmert.

Normalität statt Moralkeule

Bei Walsers Frankfurter Rede, mit der er für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels dankte, ging es dem 71jährigen Schriftsteller vorrangig um zwei Punkte. Erstens: Deutschland muß lernen, trotz seiner NS-Vergangenheit endlich wieder zu einem normalen Land zu werden. Zweitens: Der ständige Verweis auf Auschwitz darf das politische Alltagsgeschäft dieses Landes nicht andauernd behindern. Ihn bezeichnete Walser als "Moralkeule".

Nachdem der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, Walser schon am nächsten Tag als "geistigen Brandstifter" bezeichnet hatte, meldete sich in den folgenden Wochen von Holger Becker über Günter Grass bis Franz Schönhuber so ziemlich jeder zu Wort, der schon mal einen Gedanken auf Deutschland verwendet hatte.

Dieser Debatte nähert sich Rohloff in zwei Phasen. In der ersten Hälfte seines Buches weist er anhand von Walsers Werk nach, wie dieser von einem jungen, über die NS-Zeit zutiefst erschrockenen Literaten zu einem Autor wurde, dem Wohlbefinden und Selbstbewußtsein seines Vaterlandes immer mehr ans Herz wachsen. Die zweite Hälfte zeichnet dann in akribischer Fleißarbeit nach, wann wer was auf Walser geantwortet hat.

Vergangenheitsverdrängung

Obwohl der zweite Teil des Buches zum Teil unglaubliche Stilblüten versammelt - darunter die Briefe des Hamburger Ex-Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi, der Bubis allen Ernstes entgegenhielt, ob die Juden denn wohl Widerstand geleistet hätten, wenn nur die Schwulen, Sinti und Roma ins Gas geschickt worden wären - ist der erste Teil weitaus interessanter.

Dank Rohloffs penibler Werkdurchsicht wird der 1927 geborene Walser geradezu ein Beispiel für den Versuch Nachkriegsdeutschlands, die selbstangerichtete Vergangenheit Stück für Stück zu verdrängen. Noch 1963 ist Deutschland für Walser fast ein Schimpfwort. "Deutschland wurde als die Nation gespalten, als die es sich aufgespielt hatte, ohne sie je wirklich gewesen zu sein", schrieb der 36jährige in einer seiner zahllosen Reflexionen über seine Heimat. 1985, zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, sah er die Sache schon wesentlich anders: "Die ideale Lösung: die deutsche Bevölkerung, Ost und West, verreist am 8. Mai an die Strände und überläßt das Land den Siegern für ihre Feiern." Und nach der glücklich vollzogenen Wiedervereinigung ist auch der alte Walser nur noch glücklich und verkündet nach einer Zugfahrt mit seiner Tochter: "Und das hat mir gut getan, daß man von Konstanz über Apolda nach Berlin fahren kann mit einem Interregio-Zug, und daß da keine Grenze zu passieren ist."

"Kleine Panne" ins Museum

Im vergangenen Herbst schien Walser dann die Chance nutzen zu wollen, seine persönliche Entwicklung als Rezept für ganz Deutschland vorzuschlagen. Wenn man die kleine Panne mit den sechs Millionen Juden schon nicht vergessen kann, dann sollte man sie zumindest ins Museum stellen und sich nicht jeden Schritt zur normalen, selbstbewußten Nation davon versauen lassen.

Die erbitterte Diskussion hat gezeigt, daß es so einfach noch nicht geht, trotz neuer Hauptstadt und neuem Kanzler. Und Walser selbst scheint plötzlich erschrocken. Bei jeder Umfrage zum Kosovo-Konflikt äußert er sich mittlerweile als Kriegsgegner. Soviel Selbstbewußtsein muß es dann wohl doch nicht sein.
Knud Kohr

Joachim Rohloff: Ich bin das Volk. Martin Walser, Auschwitz und die Berliner Republik. Konkret Literatur Verlag Hamburg 1999. 139 Seiten, 22,80 DM.

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