Ausgabe 04 - 1999berliner stadtzeitung
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Kleine Bühnen, hoher Anspruch

Mit "Werwolf" und "Die Schlange" inszenierten tik und die FU-Studiobühne großformatige und sperrige Stücke

Schön ist es, wenn sich kleine Bühnen große Stoffe vornehmen, diese bearbeiten und auch irgendwie bewältigen. Inszenierungen dieser Art gibt es derzeit einige. Zwei seien hier repräsentativ herausgegriffen, da sie eines gemeinsam haben: Sie zeigen etwas in dieser Form noch nie Dagewesenes.

Wolfsblut und Menschenhirn

"Werwolf" ist eines der frühen Stücke Rainer Werner Faßbinders und Harry Baers, ausgegraben vom tik (Theater im Kino) und inszeniert von Olaf Brühl.

Uraufführung hatte es 1969 in Berlin und erhitzte die Gemüter so sehr, daß es danach nie wieder gespielt wurde. Schuld war der damalige Skandal um den Knabenmörder Jürgen Bartsch. Denn dem Stück liegt eine Geschichte über einen Massenmörder des 16. Jahrhunderts zugrunde, der über achtzig Menschen umbrachte. Jedoch ist die Bühnenumsetzung keine Rekonstruktion der Ereignisse, sondern eine Folge von Szenen, die teilweise in wechselnder Besetzung wiederholt werden.

Hans, der Mörder, bezeichnet sich als Gott. Er hat das Blut eines Wolfs und das Hirn von Menschen getrunken, deshalb ist er ein Werwolf. Das ist seine Art der Kommunikation mit der Außenwelt. Die anderen Personen reden vom Töten im Krieg, vom Schlachten, als wäre das normal. Sie tun ihre Pflicht als Soldaten oder Schlächter. Hans, der Massenmörder, schlachtet ebenfalls, nur nicht von der Gesellschaft sanktioniert. Er tötet, was er begehrt. Er schlägt den Opfern den Schädel ein und trinkt ihr Hirn "um ein Verhältnis zu haben mit einem anderen Menschen". Sex und Gewalt sind nah beieinander. Ein zur Unauffälligkeit erzogener Junge, Liebling aller und ein Vorbild - er wird zur Bestie. Der Mörder erscheint hier als einer, der nicht gewillt ist, sich Normen zu unterwerfen und der seine Phantasien in die Tat umsetzt. Das ist das Monströse. Der muß von der Masse verurteilt, ausgestoßen werden.

Die weiße Bühne ist in Schwarzlicht getaucht, in der Mitte ein schwarzes, angeschrägtes und perspektivisch verschobenes Fünfeck. Es gibt keine Kulissen im herkömmlichen Sinne. Aus der weißen Tücherwand schaut ein Chor aus Köpfen hervor, der weder kommentiert noch erläutert. Er ist die Masse. Ab und zu singen die Frauen ein altes Lied von Leid, Schmerz - und vom Gott. Manchmal ist es sogar komisch. Die Tötungsszenen sind ruhig, beinahe lasziv inszeniert. Irgendwann soll es nur noch aufhören, da es so bedrückend nahegeht. Der Mörder wird abgeurteilt. Die Meute singt ein Kirchenlied und macht sich über den Werwolf her. Nur blutverschmierte Münder bleiben übrig und eine gewisse Ratlosigkeit, ob das Gesehene ein geschlossenes Stück ist oder nicht. Szenische Darstellung würde eher passen.

Schlangestehen

Noch vor zehn Jahren war das Schlangestehen in der östlichen Hemisphäre etwas Alltägliches. Und wie in allem anderen war man in der Sowjetunion auch darin den anderen meilenweit voraus, sowohl im direkten als auch übertragenen Sinne. Angehörige aller sozialen Schichten standen Schlange. Da wundert es nicht, daß diese Tätigkeit Stoff für Literatur wurde.

Der Roman "Die Schlange" von Wladimir Sorokin erschien 1991 in deutscher Übersetzung. Entstanden war er schon 1983. Ungefähr zweitausend Stimmen von Wartenden umfaßt der Roman, eine riesige Sammlung von Dialogen. Es gibt keine festgelegten Personen, keinen Handlungsstrang. Das zu dramatisieren hatte sich die Studiobühne der Freien Universität vorgenommen - und mußte scheitern. Zu umfangreich und komplex ist die Vorlage für ein so kleines Ensemble aus sieben Schauspieler, die eine große Menge repräsentieren sollen. Unter der Regie von Sandra Schüddekopf wurde versucht zu typisieren, um aus dem Dialoggeflecht des Romans doch eine Art Geschichte machen zu können.

Die losen Beziehungen und das Warten auf irgend etwas Besonderes im Laden dort vorne ist aber gekonnt eingefangen. Man hält sich die Plätze gegenseitig frei, streitet sich, redet über Gott und die Welt. Es wird angebandelt, Wodka getrunken, Bruchstücke von Biographien werden erzählt. Stagnation, Orientierungslosigkeit und die Überzeugung, daß unter Stalin alles besser war, zeigen die Darsteller einigermaßen glaubhaft. Die Kostüme zeigen viel Liebe zum Detail und Kenntnis der sowjetischen Bekleidungsgewohnheiten zu Beginn der 90er in der Provinz.

Zum Theater gehört jedoch ein Spannungsbogen, der kaum erkennbar ist. Stagnation als Inhalt gibt so etwas nicht her. Zudem hat man sich von der Fülle der Romanstimmen wohl verleiten lassen, zuviel zeigen zu wollen. Das Intermezzo zwischen einem in der Schlange stehenden Mann und einer Frau, die in einem der umstehenden Häuser wohnt, wäre eigentlich ein anderes Stück. Es hat auch eine andere Intensität als der Hauptplot. Im Roman kippt das Ganze am Ende ins Absurde und Brutale, was aber nur angedeutet wird. Und das ist die eigentliche Stärke des Romans, die verdeutlicht, worum es geht. Das Geschehen rauscht in dieser Dramatisierung leider wirkungslos vorbei. Außerdem wird nicht klar, was außer einer Zeitreise in die Vergangenheit an diesem Stoff so spannend ist, daß er "10 Jahre danach" noch inszeniert werden muß. Und damit tut die Studiobühne der FU weder sich selbst noch dem Autor einen Gefallen.
Ingrid Beerbaum

"Werwolf", 1.-3. und 13.-17. Mai, 3.-7.Juni, 1.-5. Juli, jew. 20 Uhr, Theater im Kino, Boxhagener Straße 18, fon 29 00 03 70

"Die Schlange", 22.-25. April, jeweils 21 Uhr, Theaterdock in der Kultufabrik, Lehrter Straße 35, fon 3975426

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  Ausgabe 04 - 1999