Ausgabe 04 - 1999berliner stadtzeitung
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Der letzte Rausch

"Philoktet" von Heiner Müller am Berliner Ensemble

"Besuchen Sie Europa, solange es noch geht" - angeblich haben amerikanische Reisebüros in den 80er Jahren mit diesem Slogan geworben. Vielleicht hat das Besuchen ja etwas geholfen, schließlich geht es immer noch. Beim alten Berliner Ensemble wird das Besuchen nichts mehr helfen. Wer noch einmal dabeisein will, der muß die Frist einhalten, die am 30. April endgültig abläuft. Dann wird das BE erst einmal zur Baustelle, wie jedes Haus, das in dieser Stadt etwas auf sich hält. Danach kommt Peymann.

Die letzte Premiere mußte, das war klar, ein Stück von Heiner Müller sein, dem letzten Hausgott des alten BE. Die Premiere war am 1. April. Die letzte Vorstellung ist am 28. April. Und das ist auch gut so. Wer wissen will, warum das alte BE sterben mußte, der braucht sich nur diese Inszenierung von Stephan Suschke, dem letzten Interimsintendaten, in der Probebühne anzusehen. "Sie haben nichts zu lachen, bei dem was wir jetzt machen."

Mit diesen Worten endet das kurze Vorspiel von "Philoktet", einem Drei-Männer-Drama auf einer Insel in der Ägäis. Worte, die in einer ironisierten Umwelt Erwartungen wecken. Aber sie sind ernst gemeint. Heiner Müller bemerkte einmal in einem Gespräch mit Castorf, daß dieser der erste gewesen sei, der sein komisches Talent entdeckte. Bis zu Suschke hat sich dieses Gespräch jedenfalls nicht herumgesprochen. Der Text selbst ist aus einem antiken Gestein Sophokles« gemeißelt und kommt müllerisch stoisch, dicht und wortgewaltig daher. Er verhandelt den Versuch von Odysseus und Neoptolemos, den Griechenfürsten Philoktet dazu zu überreden, mit nach Troja zu kommen, um die Kampfmoral der griechischen Truppen zu stärken. Dieser Versuch endet mit dem Mord an Philoktet.

Die drei Männer sagen in einer ganz in weiß gewandeten Bühne ihre Monologe auf, als wollten sie den Text einfrieren. Zwar windet sich Axel Werner als humpelnder Philoktet engagiert über die Bühne und kämpft mit seinem Körper, als sei er sein Feind, aber die Worte gehen ins Leere. Die anderen beiden geben sich erst gar keine Mühe. Das einzige, worauf sie sorgfältig achten, ist, daß sie ihre Sprechpositionen einhalten, daß sie den Raum genau in der vorher abgezählten Schrittfolge durchqueren, daß sie keinen Haarbreit aus den Bahnen heraustreten, die ihnen ihr Regisseur aufgezeichnet hat.

Man könnte nun einfach sagen, das sei langweilig. Ist es aber nicht. Es ist grausam. Müllertext hin, Müllertext her. Es ist nicht ansatzweise zu spüren, warum jetzt und hier solches aufgeführt wird, außer daß Schluß ist. Das ist in jeder Sekunde zu spüren. Daß das Publikum danach begeistert Beifall klatscht, als hätte es etwas Aufregendes gesehen, ist die größte Überraschung des Abends. Die einzige Erklärung, die mir dafür einfällt, ist eine anerzogene Höflichkeit den Sterbenden oder gar den Toten gegenüber.
Stefan Strehler

"Philoktet" im Berliner Ensemble, noch am 22., 23., 25., 27. und 28. April

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