Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
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Radeln verkehrtherum

Eine kleine Bewegungslehre: Der Senat, die StVO und die Radfahrer

Es grenzt an ein Wunder, daß es in Deutschland einig Autofahrerland eine Gesetzesnovelle zugunsten der nicht motorisierten Verkehrsteilnehmer gegeben hat. Der Eingriff ist erheblich und verschafft Radfahrern in Städten deutliche Verbesserungen: extra ausgeschilderte Einbahnstraßen dürfen die Radfahrer verkehrt herum befahren. Darüber hinaus wurde die "Radwegbenutzungspflicht" modifiziert. Radwege müssen nur noch befahren werden, wenn sie entsprechend ausgeschildert sind. In allen anderen Fällen ist die Benutzung freigestellt.

Verabschiedet wurde die Novelle schon vor über einem Jahr, doch um Städten und Gemeinden Zeit für die Umstellung zu geben, gilt sie erst seit Jahresende 1998. Die Umsetzungen, die in Berlin vorgenommen wurden, reichen gerade mal für das Prädikat zwiespältig, auf der einen Seite muß man sich freuen, daß überhaupt etwas passiert, andererseits ist vieles nur halbherzig. Von den 850 Einbahnstraßen sind nur rund 150 für das Befahren in beiden Richtungen freigeben. Im Vergleich mit anderen Städten schneidet Berlin somit schlecht ab. In Hamburg etwa gibt es ähnlich viele Einbahnstraßen wie in Berlin. Dort wurde aber über die Hälfte für den beidseitigen Radverkehr geöffnet. In der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn sind es gar 90 Prozent der Einbahnstraßen.

Und auch in Sachen Radwege sieht die Bilanz eher mager aus, anstelle neue Wege anzulegen, nutzte die Verkehrsverwaltung das Jahr, um eine riesige Zahl an neuen Schildern aufzustellen. Bei anderen Radwegen, deren mangelhafter Zustand eine Benutzungspflicht nicht durchsetzbar macht, wurden die Schilder einfach demontiert. Schildbürgerstreiche also anstelle von Verbesserungen am Radewegenetz.

Automobiler Wahn contra Sicherheit

Geradezu absurd wird die Situation vor Kreuzungen: Selbst wenn Radwege durch abmontierte Schilder von der Benutzungspflicht ausgenommen sind, werden die Radfahrer per Schild im Kreuzungsbereich wieder auf den Radweg zurückbeordert. Hier ereignen sich aber die meisten Unfälle. Rechtsabiegende Autofahrer übersehen die Radler, weil die Radwege oft hinter einer Reihe parkender Autos geführt werden. So wurden von den 18 getöteten Radfahrern 1997 allein sechs von rechtsabbiegenden Lkw überfahren. Als Alternative zu den von der Fahrbahn getrennten Radwegen plädieren Polizei und der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC) für das Markieren von Radspuren auf der Fahrbahn. Den Radfahrern wird so ein sicherer Bereich eingeräumt und gleichzeitig werden sie von den Autofahrern wahrgenommen. In Berlin indessen müssen die Interessen der Radfahrer dem Autoverkehr weichen: Um den motorisierten Verkehr im staurelevanten Kreuzungsbereich flüssig zu halten, werden Radfahrer wieder auf den Radweg gezwungen und somit erhöhter Gefahr ausgesetzt.

Eindeutige Prioritäten

Ähnlich verquer erweist sich die Situation, wenn der Senat auf leere Kassen verweist, immer wenn es um neue Fahrstreifen für Radfahrer geht und gleichzeitig Millionen in unsinnige Kfz-Projekte pumpt: So werden im Haushalt 1999 3,7 Millionen Mark zur Sanierung des Autotunnels unter dem Alexanderplatz bereitgestellt. Und das, obwohl im Rahmen der Neugestaltung dieses Bereiches die Zukunft des Tunnels ungewiß ist. Während also beim Autoverkehr nach wie vor in fragwürdige Projekte investiert wird, mangelt es an der Umsetzung gleichfalls vorhandener Pläne für den Radverkehr. Hier sind die Kosten längst nicht so hoch, doch qualifizierte Planung ist vonnöten. Für Koordination und Unterstützung bei diesen Vorhaben stand bis Dezember 1997 ein Fahrradbeauftragter in der Senatsverwaltung zur Verfügung. Seit einem Jahr koordiniert dieser jedoch die Baustellenplanung. Sicherlich ein große Aufgabe, nur leider ein Zeichen in die falsche Richtung.

Überhaupt scheint der Senat kein besonders großes Interesse an einer auch nur ansatzweisen Prioritätenänderung im Verkehrsbereich zu haben: So bietet der mit Radwegen relativ unerschlossene Osten Berlins mit seinen breiten Straßen optimale Möglichkeiten für Radspuren. Nur gebaut werden keine, schränken sie doch den Autoverkehr ein. Dabei lädt ein gutes Radwegenetz Autofahrer zum Umsatteln ein, zumindest ist es in anderen Städten so. Berlin kann in Verbindung mit dem weit verzweigten Nahverkehrssystem attraktive Alternativen zum Auto schaffen. Zumal mit Verbesserungen des Rad- und öffentlichen Nahverkehrs auch die Lebensqualität in Berlins wächst. Aber Bewegungen und Veränderungen sind ohnehin nicht die Stärke dieses Senats.
Marcus Peter

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