Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
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Nicht mehr alles Müller

Oder was bringt die Zukunft für Weddings traditionelle Einkaufsmeile?

Zwei Wochen lang wurden Passanten auf der Müllerstraße im Wedding befragt. "Wie attraktiv finden Sie die Straße?", wollte man erfahren. Die Umfrage dient der Vorbereitung einer sogenannten Zukunftskonferenz, die im Mai stattfinden wird und eine "Vision" der Müllerstraße entwickeln will. Allerdings wird sie sich zunächst eher mit den Problemen der Straße befassen müssen: Für jeden Passanten ist mittlerweile sichtbar, daß die Geschäfte auch in den guten Lagen reihenweise dicht machen.

Die Müllerstraße, vom U-Bahnhof Reinickendorfer Straße Richtung Norden bis zum Kurt-Schumacher-Platz verlaufend, hat den letzten Boom 1992/93 als verzögerte Reaktion auf die Wende erlebt. Seitdem geht nicht mehr viel. Auch im eigentlichen Kernbereich zwischen Leopoldplatz und Seestraße haben neben vielen kleinen Fachgeschäften mittlerweile Bilka und das Schuhhaus Leiser geschlossen. Und in den Schaufenstern bei C&A erscheinen die Waren und die Dekoration ebenfalls nicht mehr mit Zuversicht präsentiert. Einzig Karstadt am Leopoldplatz entfaltet so etwas wie eine Magnetwirkung, nicht zuletzt durch seine große Lebensmittelabteilung, durch die vor allem sonnabends auch die Besserverdienenden ihre Einkaufswagen schieben.

Generell hat der Wedding mit einem Kaufkraftverlust zu kämpfen: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, der deutsche und türkische Mittelstand zieht weg. Die Gewerbemieten sind für die Geschäftstreibenden durch die sinkenden Einnahmen oft nicht mehr tragfähig. Durchschnittlich zahlt man auf der Müllerstraße 33 Mark Gewerbemiete pro Quadratmeter bei einer durchschnittlichen Vertragsdauer von fünf Jahren. Die Bandbreite bei den Büro- und Praxisräumen betragen einer nicht repräsentativen Umfrage zufolge 25-40 DM/qm, bei Geschäften 50-125DM/qm. Die Vertragsdauer ist sinkend, die Vermieter schließen mittlerweile eher kürzere Verträge ab. Die Mieter scheuen sich da verständlicherweise, zu planen und in die Zukunft zu investieren, da die Höhe der Mieten nach Ablauf des Vertrages völlig offen ist

Centermanager lädt ein

Die Müllerstraße jedoch ist neben den Mieten zusätzlich mit einem neuen Standortkonkurrenten im eigenen Bezirk konfrontiert: im Oktober 1997 öffneten die für 300 Millionen Mark errichteten 250000 Quadratmeter Geschäfts- und 2600 Quadratmeter Büroflächen des "Gesundbrunnen-Centers" ihre Pforten. Seitdem lädt der "Centermanager" Gottfried Wabra unermüdlich zum "Erlebnisshopping" in das private Kaufparadies ein. Laut hauseigener Mitteilung sollen es im ersten Jahr fünf Millionen Besucher gewesen sein, die hier auch wieder auf die von der Müllerstraße umgezogene Leiser-Filiale treffen können. Die so gastfreundlich titulierten Besucher werden umgarnt von Sonderpräsentationen, Modenschauen und ähnliche Kaufanimationen, die immer wieder neu auf den Ladenstraßen inszeniert werden. Auch die Musikschule gibt hin und wieder ein Konzert vor den Geschäftsauslagen. Der regelmäßig stattfindende "Prominentenfrühschoppen" verbreitet den Anspruch, im "Center auch eine Stätte der kulturellen Kommunikation und der Begegnung" zu finden. Und kürzlich, termingerecht zu Karneval, versuchte ein etwas abgehalfterter närrischer Conferencier die Kundschaft in Stimmung zu bringen. Aber nur die Kinder waren begeistert und warfen das säckeweise zur Verfügung gestellte Konfetti großzügig mit beiden Händen aus dem darüberliegenden Stock auf die unten Stehenden. Kleine bunte Punkte verzierten von da ab die Frisuren der Shoppenden.

Wie sehr die Geschäfte in ein durchorganisiertes Managementkonzept eingebunden werden, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die Kunden einmal im Monat den nettesten Verkäufer oder die netteste Verkäuferin des gesamten Centers küren dürfen. Der absolute Höhepunkt ist dann der jährlich verliehene Oskar für die allernetteste Verkäuferleistung. Bei soviel Fürsorge und Wohlfühlatmosphäre stellt sich die berechtigte Frage: Hat die Müllerstraße überhaupt noch eine Chance? Kann sie überhaupt noch eine haben? Zumal, wenn´s regnet?

Neues urbanes Image

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen verspürt nun auch die Müllerstraße das dringende Bedürfnis, ein neues "Image" zu erhalten. Um aber so etwas wie städtisches Leben in allen Facetten zu berücksichtigen, will sich die Zukunftskonferenz nicht auf rein ökonomische Fragen beschränken. "Alle, die in der Müllerstraße leben, arbeiten oder einkaufen, sollen die Gelegenheit haben, Kritik und Verbesserungsvorschläge zum Einzelhandels- und Dienstleistungsangebot, zu den bestehenden kulturellen und sozialen Einrichtungen oder auch zur Verkehrssituation zu äußern", so Cornelia Rövekamp, die gemeinsam mit Anke Stopperich die Konferenz vorbereitet. Der Alltag soll in möglichst vielen Varianten erfaßt werden, so daß neben dem Ergebnis der Passantenumfrage, das als imaginäre Stimme vertreten sein wird, auch Geschäftsleute, Vermieter, BVG, Polizei, Verkehrsinitiativen, Schulen und das Bezirksamt beteiligt sind. Die Konferenz wird sich auf drei Tage beschränken, um nicht in ausufernden Diskussionen steckenzubleiben. Danach sollen die gemeinsam definierten Ziele umgesetzt werden; ein Prozeß, der von "Runden Tischen" und eintägigen Folgekonferenzen unterstützt werden wird. Wem es jetzt schon in den Fingern kribbelt, kann vorab auf einer eigens eingerichteten Internetseite die Müllerstraße nach seinen Wünschen umgestalten.

Währenddessen gibt es schon zwei neue Projekte für die Müllerstraße: am Standort des ehemaligen Bilka soll ein sogenannter Cittipoint mit 300 Parkplätzen und an der Ecke zur Ungarnstraße ein Fachmarkt mit 1000 Parkplätzen entstehen. Beides geplant als kleine Einkaufszentren mit Shop-in-shop-Konzept.
sas

Internetseite des Projekts: http://www.tfh-berlin.de/Projekte/Muellerstrasse

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