Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
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Einmalige Chance vergeben

Einkaufszentren machen den Einzelhandel platt

An den Autobahnabfahrten des Berliner Rings sind sie schon ein gewohnter Anblick: die postmodern verzierten Lagerhallen mit den riesigen, verschämt begrünten Parkplätzen und den bunten Fahnen davor. Diese Einkaufszentren tragen Namen wie "Kaufpark" oder "A 10-Center" und machten Ortsnamen wie Waltersdorf oder Großmachnow für viele erst zu einem Begriff.

Direkt von der Autobahn zu erreichen, sonst aber im Nichts gelegen, sind solche großflächigen Einzelhandelszentren allein auf autofahrende Kunden zugeschnitten. Vorzugsweise samstags stauen sie sich dorthin, wo es keine Parkplatzsorgen gibt, versorgen sich in einem Haus rundum, um sich dann mit vollem Kofferraum in die Stadt zurückzuquälen. Nicht nur die Autoabgase und die Staus sind dabei problematisch. Da jede Mark nur einmal ausgegeben werden kann, haben die Einzelhändler in der Innenstadt teilweise dramatische Umsatzeinbußen zu verzeichnen.

Verödende Bezirkszentren

Das betrifft weniger die zentralen innerstädtischen Standorte wie den Kurfürstendamm oder den Alexanderplatz, sondern vor allem die bezirklichen Zentren wie zum Beispiel die Schönhauser Allee oder die Berliner Allee in Weißensee. In solchen traditionellen Mittel- und Unterzentren ist eine fortschreitende Verödung zu beobachten. Wo vorher Fachgeschäfte verschiedener Branchen die Grundversorgung der Anwohner sicherten, reihen sich nun 99-Pfennig-Läden, Banken und die immer gleichen Filialgeschäfte aneinander. Viele Läden stehen leer, weil alteingesessene Geschäftsinhaber, die sich oft nur noch durch Selbstausbeutung über Wasser halten können, letztlich aufgegeben haben.

So sind denn auch deutliche Arbeitsplatzverluste festzustellen: In einem einzigen Jahr - von November 1997 bis November 1998 - sind 8,6 Prozent der Arbeitsplätze im Berliner Einzelhandel verloren gegangen. Man schätzt, daß für jeden Arbeitsplatz, der in einem neuen Einkaufszentrum geschaffen wird, etwa 2,5 Arbeitsplätze im benachbarten Einzelhandel wegfallen.

Nach dem Mauerfall stand Berlin vor einer einmaligen Situation: Einen Speckgürtel, wie er sich in einem jahrelangen Prozeß um jede westdeutsche Großstadt gelegt hatte, kannte Berlin nicht. Doch statt aus den negativen Erfahrungen anderer Städte zu lernen, stürzte man sich kopfüber in die Aufholjagd. Regionalplanerische Konzepte, die Verkehrsprobleme und Landschaftszersiedlung vermeiden sowie den Umlandgemeinden andere Perspektiven eröffnen sollten, wurden nur lustlos verfolgt und endlos verschleppt. Der Landesentwicklungsplan für den engeren Verflechtungsraum (LEPeV) konnte nach langen Auseinandersetzungen zwischen Brandenburger Ministerien und Berliner Senatsverwaltungen erst im März 1998 beschlossen werden - viel zu spät, um die Entwicklung noch wesentlich zu beeinflussen.

Magnetwirkung bleibt aus

Während auf der grünen Wiese die Einkaufszentren aus dem Boden gestampft wurden, blieb man in Berlin jedoch nicht untätig. Um die Bezirkszentren zu stärken, wurden eine ganze Reihe von Shopping-Malls genehmigt, zum Beispiel das Gesundbrunnen-Center, das Ring-Center an der Frankfurter Allee oder die im März eröffnenden Schönhauser-Allee-Arcaden. Von ihrer überregionalen Anziehungskraft soll auch der benachbarte Einzelhandel profitieren. Der weitreichende Ladenleerstand rund um die Frankfurter Allee oder die kürzlich gehäuften Geschäftsaufgaben in der Müllerstraße im Wedding legen jedoch eher den Schluß nahe, daß die Center vielmehr die Kaufkraft aus ihrer näheren Umgebung abschöpfen. Überregionale Magnetwirkungen entwickelten bisher nur Mega-Projekte wie die Potsdamer-Platz-Arkaden.

Immerhin sind die innerstädtischen Shopping-Malls auch ohne Auto und für viele fußläufig erreichbar. Doch scheint dem motorisierten Kunden trotzdem die besondere Aufmerksamkeit zu gelten. Wie sonst ist erklärbar, daß trotz hervorragender Anbindung an S- und U-Bahn für jedes Center eine gigantische Stellplatzanzahl beantragt und genehmigt wird?

Mit der angekündigten Bundesratsinitiative des Senats, das Ladenschlußgesetz weitgehend abzuschaffen, wird der Wettbewerbsvorteil der Einkaufszentren und Einzelhandelsketten noch verstärkt. Die kleinen Einzelhändler haben meist weder finanziell noch personell die Möglichkeit, ihre Öffnungszeiten auszudehnen.

Schreckgespenst FOC

Das neueste Schreckgespenst für den Einzelhandel und die Regionalplanung heißt Factory Outlet Center (FOC). Im Umland von Berlin sind zur Zeit sechs dieser Fabrikverkaufszentren in der Diskussion: bei Wustermark, Ludwigsfelde, Eichstädt, Ragow, Marquardt und Brandenburg (Havel). Markenbekleidung mit kleinen Fehlern und Restposten sollen hier erheblich billiger als in den innerstädtischen Fachgeschäften verkauft werden. Erfahrungen aus den USA und Großbritannien besagen, daß ein FOC einen Einzugsbereich von etwa fünf Millionen Einwohnern benötigt. Damit wäre im Großraum Berlin gerade mal ein FOC tragfähig.

Hier ist eine planerische Kooperation zwischen Berlin und Brandenburg gefragt. Der LEPeV trifft dazu eine deutliche Aussage: "Die Ansiedlung weiterer großflächiger Einzelhandelsbetriebe außerhalb der Kernbereiche der Brandenburger Zentren im engeren Verflechtungsraum und der städtischen Zentren in Berlin ist nur zulässig, wenn Art und Umfang des geplanten Angebotes zentrenverträglich sind und der räumliche Zusammenhang zum vorhandenen Siedlungsbereich gewahrt wird." Wenn die gemeinsame Landesplanung ernstgenommen wird, haben sich die geplanten FOC-Ansiedlungen damit praktisch erledigt. Die anhängigen Klagen des Bezirks Spandau und der Stadt Potsdam gegen das FOC in Wustermark haben deswegen reelle Chancen auf Erfolg.

Kein weiterer Bedarf

Die Bündnisgrünen im Abgeordnetenhaus sehen keinen weiteren Bedarf an großflächigen Einkaufszentren - weder im Umland noch an innerstädtischen Standorten. Anläßlich der Vorstellung der Broschüre "David gegen Goliath - Konsumtempel verdrängen Einzelhandel", die bei der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen erhältlich ist, forderte die stadtentwicklungspolitische Sprecherin Claudia Hämmerling, der Entwicklung entgegenzusteuern. Neue Einkaufszentren sollten in Berlin nur noch genehmigt werden, wenn sowohl der Senat als auch der Bezirk das Projekt befürworten. Um kleine Einzelhändler vor Verdrängung zu schützen, sollten Regelungen gefunden werden, mit denen der Anstieg der Gewerbemieten begrenzt werden kann.

Zur Revitalisierung traditioneller Einkaufsstraßen müßten Frau Hämmerling zufolge Standortmarketingsysteme entwickelt werden, die den bestehenden Einzelhandel mit einbeziehen. Im Wedding sollten sich beispielsweise das Stadtplanungsamt, die Wirtschaftsförderung, die Einzelhändler und der Center-Betreiber an einen Tisch setzen und ein gemeinsames Konzept entwickeln. Ob den Betreiber des Gesundbrunnen-Centers die Zukunft der Müllerstraße oder der Badstraße überhaupt interessiert, ist allerdings fraglich. Schließlich ist so eine Shopping-Mall völlig auf sich selbst bezogen und von ihrer Umgebung weitgehend unabhängig.
Jens Sethmann

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