Ausgabe 02 - 1999berliner stadtzeitung
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"Ich kam zur Welt und lebte trotzdem weiter"

Erich Kästner zum 100. Geburtstag

"Eine böse Zeit", sagte der Direktor. "Eine gottlose Zeit. Die Gerechten müssen viel leiden." "Wer sind die Gerechten?" fragte Fabian. "Geben Sie mir ihre Adresse." "Sie sind immer noch der alte", meinte der Direktor. "Sie waren immer einer der besten Schüler und einer der frechsten. Und wie weit haben Sie es damit gebracht?" "Der Staat ist im Begriff, mir eine kleine Pension zu bewilligen", sagte Fabian. "Arbeitslos?" fragte der Direktor streng. "Ich hatte mehr von ihnen erwartet." Fabian lachte. "Die Gerechten müssen viel leiden", erklärte er. "Hätten Sie nur damals Ihr Staatsexamen gemacht", sagte der Direktor. "Dann stünden Sie jetzt nicht ohne Beruf da." "Ich stünde in jedem Fall ohne Beruf da", entgegnete Fabian erregt. "Auch wenn ich ihn ausübte. Ich kann ihnen verraten, daß die Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Der Kompaß ist kaputt, aber hier, in diesem Haus, merkt das niemand. Ihr fahrt nach wie vor in eurem Lift rauf und runter, von der Sexta bis zur Prima, wozu braucht ihr einen Kompaß?" Der Direktor schob die Hände unter die Flügel seines Gehrocks und sagte: "Ich bin entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für Sie? Gehen Sie hin und bilden Sie ihren Charakter, junger Mensch. Wozu haben wir Geschichte getrieben? Wozu haben wir die Klassiker gelesen? Runden Sie Ihre Persönlichkeit ab!" Fabian betrachtete den wohlgenährten, selbstgefälligen Herrn und lächelte. Dann sagte er: "Sie mit Ihrer abgerundeten Persönlichkeit!" und ging.*

Erich Kästner war ein Moralist. Er schrieb Bücher für Kinder, weil er glaubte, daß es für Kinder mehr zu erfahren gibt, als das, was man in der Schule lernt. Ein Ort, dem er besondere Eignung zusprach, war das Theater. Aber es sollte kein normales Theater sein, sondern ein "ständiges Kindertheater", möglichst in jeder Stadt eines. Ein Theaterhaus, das den Kinder gehört, nicht nur symbolisch, sondern tatsächlich. Erwachsene hätten an diesem Ort nichts zu sagen, sie hätten nur zu helfen, die Ideen der Kinder umzusetzen. Kästner phantasierte nicht nur, er machte auch Finanzierungsvorschläge. Er schlug die Einführung einer "Klassiker-Steuer" vor. Die Tantiemen der toten Dichter für die lebenden Kinder. Ein hübscher Vorschlag, den Kästner 1949 machte und der vom "KinderKiezTheater Murkelbühne" wieder ausgegraben und der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die "Murkelbühne" ist ein Kindertheater, das sich durchaus im Kästnerschen Sinne versteht, wenn sie auch längst kein eigenes Haus hat (und nicht nur Theater macht). Unter der "Leitung" von Ramona Zimmermann und Matthias Kubusch sind in den letzten fünf Jahren mehrere Theater- und Filmproduktionen entstanden, die weitestgehend von den Kindern selbst erarbeitet wurden. Die Drehbücher für die Filme sind beispielsweise von den Kindern (zwischen 8 und 16 Jahren) geschrieben worden, ebenso wie sie Schnitt, Kamera und Regie selbst machen. Die jüngste Produktion ist eine Bearbeitung von Kästners Kinderbuch "Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee", ein satirisch-utopischer Trip durch die Verkehrtheiten der Gegenwart. Der "Spielfilm zum Thema Phantasie und Wirklichkeit" ist die bislang umfangreichste Filmarbeit der "Murkelbühne" (ca. 60 Minuten) und versteht sich als zeitgenössische Auseinandersetzung mit Kästner, der am 23. Februar 100 Jahre alt geworden wäre. Drehorte waren unter anderem die Steilküste der Insel Usedom und das Tagebaugebiet Cottbus-Nord. In erwachsenen Nebenrollen treten Barbara Thalheim und Jean Pacalet auf.
Stefan Strehler

Filmpremiere ist am 14. März um 11 Uhr in der Wabe, Danziger Str. 101. Karten und Kontakt zur "Murkelbühne" unter fon 4483354.

*Lesung aus "Fabian - Geschichte eines Moralisten" von Götz Schubert am 27. Februar um 11 Uhr in den DT-Kammerspielen, Schumannstr. 13a, fon 28 44 12 22.

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