Ausgabe 01 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Der nüchterne Souverän

Bierpreise kratzen an den Wolken

Biertrinken ist einfach: Bestellen, schlucken, zahlen. Und den Weltfrust ertränken. Kann man sowieso nicht ändern, die Lage, den Zustand, das System, und überhaupt. Der kleine Biertrinker winkt nur ab, was die Bedienung als Ruf nach einem neuen Bier versteht. So geht alles seinen eingespielten Gang.

Aber halt! Geben Sie Ihrem Alkoholkonsum doch einen Sinn! Biertrinken oder Nicht-Biertrinken eröffnet Einflußmöglichkeiten, von denen Sie nicht mal zu träumen wagten: in der Stadtplanung beispielsweise. Mit jedem einzelnen Bier bestimmen Sie die Höhe eines geplanten Hochhauses. Die Hintergründe:

15 Millionen Mark Verlust machte der Dortmunder Getränkekonzern Brau und Brunnen AG im vergangenen Jahr - der Bierabsatz ist rapide gesunken. Darum erhöhte er zum 15. Januar die Faßbierpreise um 25 Mark je Hektoliter. Berliner Biertrinker sind davon besonders betroffen, denn zu Brau und Brunnen gehören unter anderem die Marken Schultheiss, Berliner Pilsner, Engelhardt und Jever. Mit rund 3500 belieferten Gaststätten nimmt Brau und Brunnen in Berlin eine marktbeherrschende Stellung ein. Ein Großteil der Wirte ist gezwungen, den Preis für ein Glas Bier um bis zu 20 Pfennig zu erhöhen.

Das Geschäft mit Bier, Limonaden und Mineralwasser ist bei Brau und Brunnen allerdings nur noch eine kleine Sparte. Im wesentlichen betätigt sich der Konzern in der Immobilienbranche. Über 250 Millionen Mark plant Brau und Brunnen in den Bau des "Zoofensters" - eines 80 Meter hohen Gebäudes an der Ecke Joachimstaler/Kant-/Hardenbergstraße - zu investieren. Ursprünglich sollte das Hochhaus schon 1995 fertiggestellt worden sein. Bis heute wurde aber noch nicht mit dem Bau begonnen.

Machen wir die Biermädchenrechnung auf: 80 Meter kosten 250 Millionen, macht also 3,125 Millionen pro Meter Höhe. 3,125 Millionen durch 20 Pfennig Bierpreiserhöhung sind 15,625 Millionen Biere, die nötig sind, um einen Meter Haus in die Höhe zu bauen. Eine gewaltige Zahl auf den ersten Blick. Doch wenn alle 3,4 Millionen Berliner mitmachen, ist es ein leichtes, den Bau auf 22 Meter Traufhöhe zu drücken. Exakt 906,25 Millionen Biere müssen getrunken werden, und zwar 906,25 Millionen Biere
weniger
. Alle Berliner müßten dazu 267 Tage lang jeden Tag ein Bier
nicht trinken. Mit der kollektiven Willensanstrengung, ein Jahr und zwei Tage lang auf ein einziges Bier zu verzichten, könnten die Berliner das "Zoofenster" sogar ganz verhindern, indem die Höhe auf Nullniveau runtergetrunken wird.

Baumasse und Bierfässer als kommunizierende Röhren, praktische Tresenphysik mit basisdemokratischem Appeal. Der Biertrinker ist der Souverän.

Ragna Lindström / Hanns Mentjes

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 01 - 1999