Ausgabe 24 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wie können wir Euch helfen, ohne uns vorher zu langweilen?"

Vorschlag für die Weihnachtsfeiertage

Am 24. morgens sehr viele Kartoffeln und Tomaten und Getränke nach Wahl einkaufen gehen. Den Tag über damit verbringen, die Hälfte der Kartoffeln zu schälen, in hauchdünne Scheiben zu schneiden und in mehrere gut eingefettete Formen zu verteilen. Ebenfalls die Hälfte der Tomaten erst enthäuten, dann kochen und anschließend mit Lieblingsgewürzen (viel Pfeffer, Paprika, Knoblauch, Salz nicht vergessen) abschmecken. Eventuell mit Ketchup nachhelfen. Es muss eine richtig geile Tomatensoße dabei herauskommen. Das erste Kartoffelblech dann in den Backofen schieben. Ungefähr 45 Minuten drinlassen. Jetzt sollte es etwa 18 Uhr sein. Telefon ausstecken, Kartoffelchips, Tomatensoße zum Tunken und Getränke vor dem Fernseher bereit stellen, gemütlich Platz nehmen, in Ruhe essen und bis zur Erschöpfung all die Sendungen glotzen, die man sonst nicht zwei Minuten lang erträgt.

Am nächsten Tag lange ausschlafen, spazieren gehen, gute Laune einüben, Kartoffelchips mit Tomatensoße essen und sich auf einen abwechslungsreichen Abend freuen. Die Hälfte der übriggebliebenen Kartoffeln und Tomaten in einer Tasche verstauen, etwas Geld mitnehmen und sich gegen 20 vor 8 im Theater unterm Dach am Prenzlauer Berg einfinden. Je nach Vorliebe Rot- oder Weißwein zum Preis von 1 Mark 50 ausreichend bestellen und trinken, bevor es los geht. Alles, was dann passiert, nicht so ernst nehmen, locker bleiben, heilig-heiter und gelöst, unbedingt darauf achten, daß einem das Lachen nicht im Hals stecken bleibt, angesichts der Ödnis und Wirrniss der jungen Menschen auf der Bühne. Nicht von den Schauspielern provozieren lassen, besonders nicht von dem aggressiven, glatzköpfigen Kerl, aber auch nicht auf die Lolitanummern der Frauen hereinfallen.

Auf den Gong warten, dann ans Fernsehprogramm von gestern abend denken und Kartoffeln auf die Schauspieler werfen. Gut zielen, hart werfen. Keine Angst haben, das ist ein Energieaustausch von Zuschauern und Schauspielern, je mehr Sie werfen, desto besser fühlen Sie sich. Die auf der Bühne machen ja schließlich auch, was sie wollen. Lassen Sie sich auf dem Besetzungszettel nicht von dem Hinweis irritieren, daß es sich um eine Bearbeitung von Bruckners "Früchte des Nichts" handelt. Das ist kein Literaturtheater. Achten Sie auf den Moment, wo einer der Schauspieler bekennt, daß er an ALLEM schuld ist. Legen Sie die Tomaten zurecht. Gehen Sie in Gedanken die Liste ihrer Lieblingsarschlöcher durch. Versuchen Sie jetzt bloß nicht intellektuell zu sein. Warten Sie auf das Zeichen und werfen Sie dann mit Begeisterung. Machen Sie sich frei. Lassen Sie sich nicht von dem Gerede über Langweile auf der Bühne anstecken. Bleiben Sie ruhig, auch dann, wenn es so aussieht, als ob es ernst wird. Sollte ihnen das Lachen doch vergehen, machen Sie sich keine Sorgen: Ihre Reflexe sind okay. Freuen Sie sich auf das Schlußbild.

Wenn Ihnen es gefallen hat, reden sie danach mit den Schauspielern. Rufen Sie ihre besten Freude an. Gehen Sie am zweiten Feiertag noch einmal hin. Frisches Gemüse sollte noch ausreichend vorhanden sein.

Steve Freitag

"Tränen spotten" von wehrtheater hartmann im Theater unterm Dach (fon 42 40 10 80), Danziger Str. 101, 25. und 26. Dezember, 20 Uhr.