Ausgabe 24 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Planung ist der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum.

Krimis vom Nachttisch geräumt

Der Titel ist unter allen denkbaren wohl der zweitdämlichste. Der Bär schießt los heißt die Anthologie, die zur Criminale 98 erschienen ist. Zum Wortspiel Bärlin, mit dem Maskottchen der Hauptstadt auf dem Einband, hat der Mut dann doch nicht gereicht - oder die Phantasie.

Die Geschichte von Niklaus Schmid um mehrere Leichen im Umfeld des Bärenzwingers, die dem Band wohl den Titel gab, gehört zu den amüsanteren, ist der Leser doch immer froh gestimmt, wenn der Einfallsreichtum eines durch Zufall kriminell gewordenen Kleinbürgers mit der Nichtentdeckung durch die Polizei belohnt wird. Überhaupt dominieren die Durchschnittsmenschen, ab und an angereichert durch Prostituierte vom Stuttgarter Platz, abgewickelte Ost-Kriminale oder einen Diplomaten auf erotischen Abwegen.

Die Personen bleiben oft schemenhaft, der ausdrücklich vom Herausgeber eingeforderte Berlin-Bezug beschränkt sich zuweilen auf die Nennung von Straßennamen und die Verklärung von Einschußlöchern in verblichenen Fassaden. Dies ist naturgemäß der kurzen Form - zwei Dutzend Geschichten in einem Taschenbuch - geschuldet. Einige Texte zeigen jedoch darüber hinaus, welche Qualitäten in einem appetizer liegen können: Jürgen Ebertowski, der erst gar nichts erklären will, verwirrende Andeutungen großzügig verteilt und en passant Jörg Fauser eine Reverenz erweist; Jan Flieger, der so rechtzeitig aufhört, daß der eigentliche Krimi eine Sache des phantasievollen Lesers wird.

Und vor allem Karr & Wehner, die ihre "Drei-Groschen-Geschichte" im fiktiven Borbeck am Rande des Ruhrgebietes und am Schiffbauerdamm ansiedeln. Die undurchsichtige Verbindung des großen B.B. zum Hause der Brauereidynastie Mink, daraus resultierende illegitime Kinder verschiedener Generationen und ein wieder aufgefundenes, möglicherweise gefälschtes Libretto für eine sozialkritische Ruhroper fordern Opfer, nicht nur in der Frage der Verwertungsrechte - ein Plot, ganz unangestrengt aus dem vollen Leben gegriffen.

Und einen schönen Untertitel bietet er auch: "Planung ist der Ersatz des Zufalls durch den Irrtum". Na bitte, geht doch.

"Durchschnittlich - fauchte ich. Sobald mein Aussehen ins Spiel kam und ich nicht dafür bewundert wurde, sank mein Selbstwertgefühl gegen Null, war ich wieder die kleine Rothaarige mit der Sommersprossenhaut." Das ist Linda, die Hauptperson im Wiener Blut, die auf der anderen Seite aber froh ist, "endlich so alt auszusehen, wie ich bin." Neid ist, wie sie gleich darauf ungefragt erzählt, "eine meiner schlimmsten Eigenschaften", sie haßt "langsam ausklingende Beziehungen" und kriegt "von Mineralwasser Hautausschlag und von Cola Pickel". Kein Wunder, daß man von Anfang an ihr und ihren Freundinnen nicht so recht folgen will - Emma und Mary, denen sich irgendwann auch mal Robert zugesellt, ein Mann wie viele andere auch, weil er, so Linda, glaubt, "Spiegel seien nur für Frauen da."

Wir glauben inzwischen, daß Katja, um die es laut Klappentext eigentlich gehen soll, verschwunden ist, weil ihr Name in diese ur-wienerische Truppe nicht so recht reinpaßt. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht mehr die alten Geschichten hören von Lindas Vater, der die Mutter schlug und vom Großvater, dessen Geiz die Opernausbildung von Tante Evelyn verhinderte. Wenn Handlung und Rückblenden dieser Art nichts miteinander zu tun haben, ist es verständlich, daß die Lösung des Falles vor allem den spirituellen Fähigkeiten der Heldin zu verdanken ist. Schnell haben wir den Band aus der Hand gelegt und warten weiter auf einen echten Wien-Krimi (Die Redaktion ist für Hinweise dankbar).

Dann lieber gleich in die Provinz. Caruso singt nicht mehr ist ein Krimi aus der hessischen Provinz, dessen Qualitäten nicht in der Geschichte um brennende Höfe und eine Leiche im Kühlhaus für Schlachtvieh liegen. Daß unter der heimeligsten Landidylle die mörderischsten Abgründe verborgen sind, ist ja mittlerweile für all diejenigen, die den Sündenpfuhl Großstadt für langweilig halten, so etwas wie Allgemeingut geworden.

Und daß hinter allem dann alte Seilschaften der Staatssicherheit stecken, daß niemand vor der Vergangenheit weglaufen kann - nichts Neues, wenn auch gut erzählt.

Was dieses Buch auszeichnet, ist die Beschreibung des dörflichen Lebens, in dem jeder mit jedem zu tun hat und jeder fast alles vom anderen weiß. Die Beschreibung des verhaltenen Tempos, der üblichen, kleinen und größeren Geschehnisse und natürlichen Todesfälle ist geschickt mit der Haupthandlung verwoben. Die rankt sich um eine Zugezogene, deren im Dorf unbekannte Vergangenheit Gerüchte provoziert. Der gewaltsame Tod ihres Mannes und ein gleichzeitig umgehender Pferdemörder schließlich lassen Neid, Verdächtigungen und Mißtrauen gegen alles Andere und gegen alle "Anderen" offen zutage treten.

Weil den Personen Platz genug eingeräumt wird, um zu Charakteren werden zu können, weil das "Whodunnit?" nicht im Eilverfahren abgehandelt wird und weil die allmähliche Zuspitzung der Ereignisse aus Sicht eines fast schon eingebürgerten Neuanwohners aus dem nahen Frankfurt geschildert wird, gelingt Anne Chaplet aus einem fast schon überstrapaziertem Thema eine spannende Milieuschilderung.

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Karl-Michael Stöppler (Hg.), Der Bär schießt los. Criminale-Geschichten aus der Hauptstadt, Ullstein, Berlin 1998, 234 S., 14,90 DM; Frances Alaska, Wiener Blut, Aufbau, Berlin 1998, 220 S., 14,90 DM; Anne Chaplet, Caruso singt nicht mehr, Antje Kunstmann, München 1998, 297 S., 39,80 DM