Ausgabe 20 - 1998berliner stadtzeitung
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Am Rande der Stadt findet eine Automobilausstellung statt, doch in unserem Verkehrsspecial werden Autos völlig übergangen. Von Fußgängern, Radfahrern und Autobahngegnern

Runter vom Rad

Nicht mehr jeder Radweg muß benutzt werden.

Seit dem 1. Oktober haben Radfahrer mehr Rechte. Mit Inkrafttreten der zweiten Stufe der sogenannten Fahrradnovelle können nun Fahrradstraßen eingerichtet werden und die Gegenrichtung von Einbahnstraßen für Radfahrer freigegeben werden. Diese Neuerungen werden in Berlin von der Senatsverkehrsverwaltung nur sehr zögerlich umgesetzt. Mit der weitreichendsten Änderung der Straßenverkehrsordnung (StVO) sind aber alle Verkehrsteilnehmer ab sofort konfrontiert: Die generelle Benutzungspflicht für Radwege entfällt.

Wenn ein Radweg nicht die neu festgesetzten Mindeststandards erfüllt, muß er von Radfahrern nicht mehr benutzt werden. Ein benutzungspflichtiger Radweg muß mindestens 1,50 Meter breit sein, eine ebene Oberfläche und eine stetige Linienführung haben. Außerdem muß im Kreuzungsbereich die Sichtbeziehung zwischen Auto- und Radfahrern gewährleistet sein. Bei den üblichen, auf dem Bürgersteig angelegten Radwegen passieren gerade an Kreuzungen und Einmündungen die meisten Unfälle, weil die Radfahrer durch die Wegeführung nicht im Blickfeld der abbiegenden oder kreuzenden Autofahrer sind.

Mit Ausnahme einiger Radspuren auf den Fahrbahnen entspricht heute kaum einer der Berliner Radwege den neuen gesetzlichen Anforderungen. Die meisten sind nur 1 bis 1,20 Meter breit, führen nah an parkenden Autos vorbei, deren unachtsam geöffneten Türen eine häufige Unfallursache sind, oder schlängeln sich in engen Kurven um Hindernisse wie Bushaltestellen oder Sicherungskästen herum, was ein zügiges Befahren unmöglich macht. Somit müßte also ein Großteil der Radwege in Berlin aus dem Benutzungszwang herausfallen. Den Radfahrern wäre es freigestellt, entweder den Radweg weiterhin zu befahren oder auf die Fahrbahn auszuweichen.

Die Senatsverkehrsverwaltung entläßt jedoch nur etwas mehr als die Hälfte des rund 850 Kilometer umfassenden Radwegenetzes aus der Benutzungspflicht. Damit Radfahrer auch die nicht standardgemäßen Radwege befahren müssen, werden diese Wege nun vielerorts mit Radweg-Verkehrszeichen beschildert. Das zwingt die Radfahrer auch weiterhin auf die Bürgersteigradwege. "Das Schild gilt", meint Benno Koch, Berliner Pressesprecher des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Doch schmale, holprige und gefährliche Radwege einfach durch das Aufstellen von Schildern an der StVO vorbei für benutzungspflichtig zu erklären, dürfte in Einzelfällen rechtlich nicht haltbar sein.

Das betrifft zum Beispiel den Bürgersteigradweg am oberen Teil der Schönhauser Allee. Auf Weisung der Senatsverkehrsverwaltung wurde dieser Radweg vom Tiefbauamt Prenzlauer Berg mit Schildern versehen und muß deshalb weiterhin benutzt werden. Weil man hier zwangsläufig und ständig mit den zahlreichen Fußgängern ins Gehege kommt, wurde dieser noch relativ neue Radweg von den Radfahrern allerdings nie richtig angenommen.

Auch die Prenzlauer Allee bekam einen neuen Schilderwald. Hier wurden die Schilder meist mit einem eigenen Pfosten auf der rechten Seite des Radweges, also auf der "Grenze" zwischen Fuß- und Radweg aufgestellt. Ebensogut hätte man sie links des Radweges, an den Rand der "straßenbegleitenden Grünanlagen" stellen können - dort wären sie weit weniger unfallträchtig.

Insgesamt sind allein in Prenzlauer Berg über 60 neue Schilder angebracht worden, davon 23 mit eigenem Pfosten. Nach Auskunft des dortigen Tiefbauamtes kostet ein solches Schild inklusive Pfosten 120 Mark. Dazu kommen noch die Kosten der Arbeitsstunden, die für die Aufstellung nötig waren.

Dieses Geld hätte nach Ansicht des ADFC lieber in die Verbesserung der Radwege selbst gesteckt werden sollen. Die Radfahrerorganisation fordert schon seit langem eine vollständige Aufhebung der Benutzungspflicht für Radwege. Gute Radwege werden auch freiwillig und gerne benutzt.

Jens Sethmann

 

Dieser Mann geht über Autos

Die Autobiographie des Autogehers Michael Hartmann

Eines schönen Tages im März 1988 begann Michael Hartmann sich gegen die Autoflut in den Straßen seiner Heimatstadt München zur Wehr zu setzen. Der damals 22jährige geriet darüber in Wut, daß Autos auf den Gehwegen geparkt werden und somit auch noch den knappen Raum in Beschlag nehmen, der den Fußgängern vorbehalten sein sollte, - und stieg einfach über die Autos hinweg. Stoßstange, Motorhaube, Dach, Kofferraumdeckel - Sprung. Die Reaktionen waren unterschiedlich: von Beifall und Belustigung über Kopfschütteln und Unverständnis bis hin zu offener Feindseligkeit - letzteres meist von Seiten der Fahrzeugbesitzer. Doch solange Blech und Lack unbeschädigt bleiben, ist das Gehen über falschparkende Autos völlig legal.

Protest mit den Füßen

Diese Aktionsform genügte Michael Hartmann bald nicht mehr. Er trug den Konflikt zwischen Auto und Mensch auch auf die Fahrbahn, indem er begann, auf der Straße "Brotzeit zu machen". Wenn Fußgänger um parkende Fahrzeuge herumlaufen müssen, können Autos auch um frühstückende Fußgänger herumfahren. Später spazierte Hartmann nur noch auf der Fahrbahn statt auf dem Bürgersteig, ging konsequent bei roten Ampeln, überquerte Kreuzungen diagonal, hob mit ein paar Leuten auf dem Gehweg parkende Autos zurück auf die Fahrbahn, organisierte Straßenbegehungen, gab Carwalking-Lehrgänge und Streetwalking-Seminare.

Es ist erstaunlich, daß der bald stadtbekannte Verkehrsquerulant nur zweimal angefahren und dabei nur leicht verletzt wurde. Weniger erstaunlich ist, daß er auch Probleme mit Polizei und Justiz bekam. Nicht immer vermeidbare Dellen in Autodächern zogen Sachbeschädigungsklagen nach sich, das Gehen auf der Straße wurde als "gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr" gewertet und brachte dem "Autoschreck" einige Tage Untersuchungshaft und eine kurzzeitige Einweisung in die geschlossene Psychiatrie. Perfiderweise versuchte man aufgrund eines früheren Unfalls, bei dem er von einem Auto angefahren wurde und schwere Kopfverletzungen erlitt, ihm die geistige Zurechnungsfähigkeit abzusprechen. Die Gerichtsverfahren hatten teilweise ein großes Medienecho. Das spektakulärste ging bis vor den Bundesgerichtshof, wo der Autogeher letztinstanzlich freigesprochen wurde.

Die Welt wieder begehbar machen

Michael Hartmann sieht in seinen Aktionen nichts Geringeres als den Anstoß zu einer "sanften Revolution gegen die Autos". Die Kompromißlosigkeit und Unverdrossenheit, mit der er sein ganzes Leben diesem Ziel widmet, lassen ihn als einen Don Quijote auf verlorenem Posten erscheinen. Die Frische und Naivität seines Kampfes gegen die Zumutungen der Massenmotorisierung lassen sogar über die erheblichen schriftstellerischen Schwächen hinwegsehen, die die Autobiographie des Autogehers aufzeigt. Keine Frage: Michael Hartmann wird weitermachen. Das mag zwar manchmal schrullig wirken, aber er hat ja recht. Jens Sethmann

Michael Hartmann: Der AutoGeher - AutoBiographie eines AutoGegners, Unrast-Verlag, Münster 1998, 188 Seiten, 24,80 DM

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