Ausgabe 20 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Geht´s jetzt lohos?

Im Willy-Brandt-Haus ärgert man sich inzwischen, daß man so ein kleines, irgendwie anthroposophisches Hochhaus gebaut hat, und platzt aus allen Nähten. Freut sich aber ansonsten kollossal - vor allem über den baldigen Umzug. Er soll die Genossen aus der Berliner Misere erlösen. Und uns allen das ´Jetzt sind wir wieder wer´-Gefühl zurückgeben. Gute Stimmung bei der SPD. Wo gute Stimmung ist, das weiß ein jeder, da gibt´s was auf die Leber. Besonders bei Politikers. Ich schlürf das auf und ess die Häppchen mit belgischer Leberpastete. Täglich ab 16.00 Uhr.

(Meine Frau, die noch nicht so lange in der europäischen Gemeinschaft lebt, war erstaunt, als sie hörte, daß der Belgier die beste Leberpastete macht. - Oder tat doch zumindest so. Reicht ja oft auch.)

Denn ich bin freiberuflich arbeitslos und treibe mich herum. Seit drei Wochen zieht es mich immer wieder ins Willy-Brandt-Haus, und dort bin ich nicht der einzige. Da sind Posten zu vergeben. ´Von diesem Kuchen möcht´ ich auch ein Stück´ So denke nicht nur ich. ´Es funktioniert doch´, das wissen wir, ´wie in diesem Lied von Hans Albers "Hoppla, jetz komm´ ich"; dort heißt es "und wer mit mir geht, der kommt eins ´rauf". - "Wer mit mir geht´", das sind wir. So lungern wir dort herum. Manche nennen sich Journalisten.

Im Antiquariat der SPD-Parteizentrale herrscht zunächst Ruhe. Dann kündigt lärmend ein Trupp Journalisten die wichtige Person an. Ich guck da immer gerne zu. Kameras und Ellenbogen pochen gegen die Schaufensterscheibe, die Glastür öffnet sich: Gerhard Schröder tritt ein. Die Sicherheitskräfte halten die Meute draußen, wir sind allein.

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, daß Sie heute für uns Zeit gefunden haben… Der scheinschlag hätte da ein paar Frag…

So könnte die Geschichte weitergehen, aber das wäre gelogen.

Daß Christian Wulff (CDU Niedersachsen) gesagt hat, in der CDU müsse man wieder lernen, auch Leute ernst zu nehmen, die keine eigene HomePage haben, das ist die Wahrheit. n-tv, 10.10.98: In der CDU müssen wir wieder lernen, auch Leute ernst zu nehmen, die keine eigene HomePage haben.

Seit 18 Tagen, ich beginne mir Termine zu merken, stehen wir früh auf, meine Frau und ich, beschleunigen das Frühstück, ich esse die wiederentdeckte belgische Leberpastete (man gönnt sich ja sonst nichts), wir trennen uns, sie geht arbeiten, um 8.30 Uhr betrete ich die Parteizentrale.

Treffpunkt der Hoffnung für etwa 200 Arbeitslose, Freiberufler, Journalisten: Junge Menschen, die eine Chance ergreifen wollen. In der großen Halle schaut ein bronzener Willy Brandt gütig auf uns herab. Wie eine Zombie-Mumie sah ihn der Künstler und vielleicht hat er ihn damit erfaßt. Wir stehen da, es gibt keine Führer, es ist ein Ritual. Wir stellen die Kaffeebecher auf die pflegeleichte Auslegware, es wird still in der lichtdurchfluteten Halle.

Wir beginnen zu singen."Jetzt geht´s lohos, jetzt geht´s lohos…"

Leise erst, doch wir steigern uns Die Partei-Sekretärinnen (gestern noch im Schiller-Theater) und die unvermeidlichen, kahlrasierten Security-Hohlköpfe starren uns an. Das ist der Rhythmus, bei dem jeder mit muß. Das ist der Sound der Zukunft. Vorbei die Zeiten der Stagnation - des lähmenden Stillstands. Vorbei. ‹ Viagra für die Konjunktur.

"JETZT GEHT´S LOS."

Es ist mir nicht leicht gefallen, wohl keinem ist es leicht gefallen zu singen, als er dort zum ersten Mal stand. Doch wenn man sich einmal überwunden hat und singt diese scheußliche Melodie, als ob man dran glauben würde. - Das hat Kraft. Das gibt Kraft. Das ist Buddhismus.

Hans Duschke

Bov Bjerg meint: Versucht es doch auch einmal und kommt vorbei. Täglich um 8.30 Uhr im Foyer der SPD-Bundeszentrale, Willhelm- /Ecke-Stresemannstraße, U-Bahn Hallesches Tor.

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