Ausgabe 19 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

8. Oktober bis 21. Oktober 1898

Ein Delikatessgeschäft in der Möckernstraße betritt am 8. Oktober ein junger Mann. Er verlangt ein Viertelpfund Wurst. Als sich der Geschäftsinhaber umdreht, um das Gewünschte herbeizuholen, ergreift der Mann plötzlich eines der auf dem Ladentisch liegenden scharfgeschliffenen Messer und bringt sich einen tiefen Schnitt in den Hals bei, so dass er sofort zusammenbricht. Er stirbt noch vor dem Eintreffen ärztlicher Hilfe. Die Polizei ordnet die Überführung der Leiche nach dem Leichenschauhaus an.

Aus den Papieren wird festgestellt, dass es sich um einen 19jährigen Lithographen Kuhnt handelt, der vor kurzem aus Nordhausen hiergergekommen ist. Aus Briefen an die Eltern und von diesen an ihn geht hervor, dass er hier keine Beschäftigung gefunden hat. Die Eltern schrieben ihm zwar, er möge sich das nicht so sehr zu Herzen nehmen, sie schickten ihm vorläufig 12 Mark und würden ihm noch mehr senden. Der Sohn erwiederte aber, dass er sich das Leben nehmen werde. Er scheint erst die Absicht gehabt zu haben, sich zu erhängen, denn er hatte einen neuen Strick in der Tasche.

Bei der Häufigkeit der Selbstmorde ist das Alter ein ausschlaggebender Faktor. Untersuchungen für Preußen von 1887 bis 1894 haben ergeben, dass mit zunehmendem Alter der Hang zum Selbstmord wächst. Nur das Alter von 25 bis 30 Jahren bildet dabei eine Ausnahme.

Traurige Erfahrungen in Brasilien hat die Familie des Schmiedemeisters Drühl aus Berlin gemacht, der früher in Rummelsburg eine Schmiede besaß und in durchaus geordneten Verhältnissen lebte. Auf den Rat eines früheren Berliner Bureauvorstehers Jerosch, der mit Frau und Kind nach Brasilien ausgewandert war, und durch seine verlockenden Schilderungen verkaufte Drühl sein Hab und Gut und wanderte ebenfalls mit Weib und Kind in die Neue Welt aus. Bald nach der Ankunft machte er die Entdeckung, dass Jerosch nicht Plantagenbesitzer, wie er geschrieben, sondern Dockarbeiter war. Seine Familie befand sich im größten Elend. Wegen der hohen Lebensmittel-Preise waren die Ersparnisse der Familie, ungefähr 1000 Mark, in 9 Wochen aufgezehrt.

Alle Bemühungen Drühls, Arbeit zu finden, und so seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren, blieben erfolglos, bis er endlich durch die Vermittlungen des Juweliers Wolf aus Banado, eines Bruders des hiesigen praktischen Arztes Wolf, viele Meilen von seiner Familie entfernt in einer Schmiede Beschäftigung fand. Aber bald darauf packte den starken Mann das gelbe Fieber und die Familie wäre tatsächlich verhungert, wenn nicht wieder Herr Wolf sie mit Rat und Tat unterstützt und schließlich ihre Überfahrt nach Deutschland ermöglicht hätte. Die Familie, die auf dem Hof des Hauses Bödickerstraße 3 wohnt, ist aber auch hier dem Elend preisgegeben. In der leeren Wohnung befindet sich kaum ein Möbelstück und der Mann ist noch immer infolge seines Fieberanfalles arbeitsunfähig. Schrecklich sind die Schilderungen, welch die Familie von dem Elend in Brasilien gibt. Alle dort lebenden Deutschen haben nichts als den brennenden Wunsch, nur noch einmal ihr Vaterland zu sehen.

Die Verjüngung und Verschönerung Berlins schreitet voran. So entwickelt sich der Spittelmarkt durch die neuen stattlichen Kaufhäuser an der Gertraudenbrücke zu einem Zentrum des Berliner Citylebens. Am Neuen Markt stehen dem eintönigen Kolossalbau des Kaufhauses Ecke Kaiser-Wilhelm- und Rosenstraße die zierlich gegliederten, gotisch-mittelalterlichen Formen der neuen Kaufhäuser gegenüber. Sie befinden sich an der Stelle, wo noch vor wenigen Jahren baufällige, alte und hässliche Baracken die Marienkirche umsäumten. Auch an der Ecke Spandauer Brücke und Neue Friedrichstraße, an der Westseite der Rosenstraße, in der unteren Königstraße, auf dem Terrain der alten Post, dem Märkischen Platz und noch an manch anderen Orten entstehen statt der alten abgebrochener Baulichkeiten neue riesige Waren- und Kaufhäuser. An der Ecke der Bischof- und Kloster-, der Spandauer- und Königs-, der Breiten und Brüderstraße nähern sich der Dom mit seiner kupfernen Kuppelbekrönung und der mächtige säulengezierte Marstall ihrer Vollendung. Das alles zeigt, dass die Verschönerung der Stadt auch in der toten Saison nicht geruht hat. Oder wie der Kaiser Wilhelm II. es formuliert: "Berlin wird doch noch mal die schönste Stadt der Welt".

Der Nord-Süd-(Brenner-Express) Luxuszug ab Berlin, dessen Endziel bis jetzt Verona war, wird in Zukunft einmal in der Woche über Mailand-Genua-Pisa-Rom nach Neapel weitergeführt werden und dort direkten Anschluss an den nach Ägypten gehenden Dampfer "Navigazione Generale Italiana" haben. Umgekehrt erfolgt auch die Rückfahrt kurz nach Ankunft des von Ägypten zurückkehrenden Dampfers in Neapel.

Zu einem Märtyrer des deutschen Postwesens ist der früher beim Postamt 9 (Potsdamer Bahnhof) angestellte Postassistent Jung geworden. Im vorigen Jahr wurde er nach Siam berufen, um in Gemeinschaft mit dem seit 1890 dort tätigen Postassistenten Collmann das siamesische Postwesen nach deutschem Muster umzugestalten. Jung, der das tropische Klima nicht vertragen konnte, hatte den ihn bindenden Kontrakt gelöst, starb aber schon auf der Heimreise in Singapur. Dort ist er von befreundeten Landsleuten zur letzten Ruhe gebettet worden.

Falko Hennig

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