Ausgabe 19 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Who the fuck is Schrøder?

Neukölln, Sonnenallee. Hartes Pflaster. Kinder, die den Alkohol schon mit der Muttermilch aufsaugen. Billigsupermärkte, Rotlichtschaufenster, Elektrogeschäfte. Fressen, Ficken, Fernsehen. Der einzige Laden, der mit anderem handelt, heißt "Blume 2000". Hier kaufen Hotte, Atze, Männe das Versöhnungssträußchen, damit ihre Perle das Veilchen von gestern abend vergißt. So dient auch "Blume 2000" doch wieder dem Grundbedürfnis Nr. 2.

Auch hier wird gewahlkämpft. Gleich neben der fiesen Fresse von Tankwart Buwitt hängt ein Plakat der Konkurrenz: "Es gibt in Deutschland viele schöne Plätze", steht da, und weiter: "Für uns sind die schönsten die Arbeitsplätze." Schöner Spruch. Muß ich mir merken. Ich bleib stehen und lerne ihn auswendig. Ein dicker Neuköllner stellt sich neben mich, glotzt ungläubig und murmelt: "So besoffen kann ick gar nich sein, det ick sone Scheiße denk." Holla, hier hab ich es offensichtlich mit einem intellektuellen Hulk zu tun. Mit einem, der ohne mit der Wimper zu zucken ganze Gutenberg-Bibeln zerreißen kann. "Die ursprüngliche Weisheit der indigenen Völker wird ja oft unterschätzt", denke ich, und ich denke, Brecht paraphrasierend, weiter: "Das ist, weil man immer nur die sehen kann, die was im Licht stehen. Aber die, die was da stehen, wo es nicht so hell ist, die kann man nicht sehen."

***
Ungereimtes = sozialkritisches Gedicht:
Ich gehe zum Bus und fahre zur Arbeit.
Mittags nur ´n Brötchen, das macht nicht so müde.
Zu Kaiser´s, nach Hause,
Essen und Fernsehn.
Der Schlaf vor zwölf ist der beste.
Der Wecker: Piep, piep.
Ich bin doch schon wach.
(Kann der Wecker ja nicht wissen.)
Nachrichten, Wetter, Verkehr.
Ein Kaffee.
Ich gehe zum Bus.
Mal kommt er um fünf, mal um sechs nach neun.
Auf dem Fahrplan steht: Neun Uhr acht.
Das ist das anarchische in meinem Leben, das italienische.
Einmal hab ich sogar den Bus verpaßt.

***

Ganz was andres. Das erste Mal umsteigen mußte ich in Nürnberg. Auf dem allerabgelegensten Gleis stand schon der Nahverkehrszug. Fast hätte ich mich dort auf dem Bahnsteig gleich schützend vor einen jungen Schwarzafrikaner geworfen, aber noch grade rechtzeitig bemerkte ich, daß der gar nicht bedroht wurde oder so. Typische Ostzonenmacke. In Wicklesgreuth mußte ich wieder umsteigen, diesmal in einen Schienenbus. "Ferkeltaxe" dachte ich bei mir. "Der Berliner würde dazu Ferkeltaxe sagen." Das dachte ich, und ich mußte überhaupt nicht darüber schmunzeln. Außerdem dachte ich: "Spätestens nach dem zweiten Umsteigen, wenn der Schienenbus auf seinem Appendix-Gleis loszuckelt, dem Prellbock entgegen, der das Ende der bewohnten Welt markiert, spätestens dann schwindet das Interesse am aktuellen Geschehen, an asiatischen Börsenstürzen und vaginalsekretgetränkten Präsidentenzigarren; du legst die Tageszeitung aus der Hand und wünschst dir ein Buch, eins, das du immer schon mal lesen wolltest, "Schuld und Sühne", oder "Der Mann ohne Eigenschaften", oder, na klar, uaaaah, "Der Zauberberg"! Wo die Zeit ohnehin stillsteht, spielt auch das Argument "langweilig" keine Rolle mehr." So dachte ich, als der Schienenbus auf seinem Appendix-Gleis durch Wiesen und Wälder zuckelte, und ein bißchen fühlte ich mich dabei wie Peter Handke. In Petersaurach stieg ein alter Bauer zu, unter dem Arm ein kleines Schwein, in Neuendettelsau stieg er aus, und ich war wieder der einzige im Zug.

Bov Bjerg

Hans "Dansk" Duschke: God rejse.

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