Ausgabe 18 - 1998berliner stadtzeitung
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Musik für die Massen

Und immer noch kann Pop auch rocken. Wer hätt´s gedacht bei all der Übermacht von elektronischen Lebensaspekten und der Installation von Tanzmusik als unabdingbare Kneipenmusik, in der achselschweißiger Rock draußen bleiben muß. Gitarrenmusik die Wert auf den Song im Sinne des mitpfeifbaren Duschlieds legt, bleibt nach Posthardcore, Vierspur-Lofi-Geknödel, Postrock (Rock ohne Gesang) und all dem Zeug fast noch die einzige Option, um das zu retten, für das man irgendwann mal meinetwegen die Beatles gerne hatte.

Elliot Smith: XO (Dreamworks Records/ Universal) - Einer, der wahrscheinlich sein ganzes Leben lang herzzereißende Schnulzen in einen gebraucht gekauften Kasettenrecorder geschluchzt hätte, wäre da nicht diese komische Oskarnominierung für sein Lied "Miss Misery" zum Gus Van Sant-Film "Good Will Hunting" dazwischen gekommen, ist Elliot Smith. Prototyp einer Slackness, die vor einiger Zeit noch unter "Generation X" firmierte, ist aus dem Gitarren-Mac-Jobber über Nacht ein Popstar geworden, um den sich alle streiten. Aber das gönnt man dem Typ mit der schlechten Frisur auch. Auf seiner neuen Platte gibt´s nämlich wieder ausschließlich Seufzer-Hits vom Feinsten. Jetzt aber alles garniert mit fettem Sound, dicker Produktion und so. Was gut ist, setzt sich durch, also doch.

Miles: The Day I Vanished (Big Store/V2) - Bis zum ungefähr zehnten Hören dieser Platte kann man es irgendwie kaum glauben, daß man es hier mit dem neuen Popwunder aus Würzburg zu tun haben soll. Dann aber, so ungefähr während des 47ten Hörens, vielleicht auch schon etwas früher, schleicht es sich heran, dieses Suchtpotential, das nur eine wirklich gute Platte in sich tragen kann. Man erkennt in den charmant unspektakulär produzierten Songs die subtil integrierten Rafinessen, euphorisch gesungenen Huhuhus und die ganze Palette, aus der sonst bloß ein paar ausgesuchte Indie-Bans von den Pixies bis Built To Spill Großes in Pop meißeln können. Einen Grower nennt man sowas, daß der aus Franken kommt, ist mal was anderes.

22 Pistepirkko: Eleven (Clearspot/EFA) - Eine klasse Band aus Finnland ist nur auf den ersten Blick etwas Ungewöhnliches. Von dort kommen seit einiger Zeit schon nicht bloß tausend Seen in deutsche Folklore-Reiseprospekte, sondern ziemlich viel schräger Stoff zwischen elektronischer Tonforschung (Panasonic), erdigen Hitmaschinen (Jimi Tenor) und eklektizistischer Rockschaffe (22 Pistepirkko eben). In Finnland schon längst Helden, wird nun nach Aki Kaurismäki die Band aus ähhh, Utajärvi hoffentlich der nächste Hit-Export aus dem Land der Saunagänger und Handyträger. Ohne Angst vor Ausflügen ins Trip Hop-Land zu haben, gibt es auf "Eleven" vom Stones-Gegniedel bis hin zu euphorischem Musiksommernachtstraum einmal die Musikgeschichte rauf und runter, aber in gut.

Belle & Sebastian: The Boy With The Arab Strap (Virgin) - Das Schönste zum Schluß, so kurz vor dem Winter, bevor die letzten Blätter von den Bäumen gepurzelt sind. Das Schönste seit Nick Drake selig, seit Don Mc Leans "American Pie" und seit den Schmusesonaten von Air. Wie Küsse in französischen Filmen, wie "Bilitis", wie ein Sonnenaufgang über einem rauschenden Kornfeld in Schottland und solche Sachen. Ach ja, aus Glasgow kommt auch der Achter aus Melancholie, Sehnsucht und zärtlichem Anfassen, der sich Belle And Sebastian nennt.

Andreas Hartmann

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  Ausgabe 18 - 1998