Ausgabe 18 - 1998berliner stadtzeitung
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Zwischen Windmühle und world wide web

Montaignes "Essais" in neun Tagen und neun Nächten

Wer sich Bücher am liebsten vorlesen läßt, hat dazu in Berlin mannigfaltig Gelegenheit. Die Vorfreude auf die Lesung der berühmten "Essais" von Michel de Montaigne aus dem 16. Jahrhundert konnte zu Beginn allerdings in Irritation umschlagen.

Anlaß des Lesemarathons war das Erscheinen einer neuen deutschen Gesamtübersetzung der "Essais", die in der "Anderen Bibliothek" im Eichborn-Verlag erschienen ist. Neun Tage und neun Nächte veranschlagte Juliettes Literatursalon, der zu der Lesung einlud, zur Bewältigung des je nach Ausgabe bis zu tausendseitigen Werks. Auch neun, allerdings Jahre, hatte dessen Autor nämlich daran geschrieben. Und da dieser sich zur Niederschrift in die Einsamkeit seines Turms zurückzog, wollte Peer Martiny zur Lesung dem Verfasser nicht nachstehen: Er bezog den "Galerie Turm" von Juliettes Literatursalon, ein Kabüffchen, in das ihm die Zuhörer nicht folgen konnten. Für sie war er entweder vom Salon aus auf einem Fernsehschirm, durch ein in eine Trennwand hineingeschnittenes "Fenster" oder von der Straße aus durchs Glasfenster zu sehen und zu hören.

Zum Einzug in den "Galerie Turm" am 10. September gab Mathias Greffrath, selbst Verfasser einer Monographie zu Montaigne, eine Einführung. Als Autor lasse sich Montaigne, der mit der Niederschrift seines Hauptwerks im Jahre 1571 begann, in einer "Zwischenzeit", nämlich etwa "in der Mitte zwischen dem Aufkommen der Windmühle und dem world wide web" ansiedeln, konkreter wohl während des Herandämmerns des Absolutismus. Seine Bedeutung liege unter anderem darin, daß er die Form des Essais begründet hat.

An einer eigentlichen Lesung schien Peer Martiny zum Auftakt allerdings gar kein Interesse zu haben. Seine häufigen Zwischenbemerkungen wirkten deplaziert und deuteten eher darauf hin, daß er das von ihm vorgelesene Werk nur wenig ernst nahm. Der beabsichtigte offene Charakter der Lesung ("zuhören, mitdenken, nachfragen") wurde am ersten Abend zu einem Happening, bei dem sich schließlich auch Greffrath fragte, was das noch mit Montaigne zu tun habe. Erst an den folgenden Tagen und Abenden wurde ein langsam und betont, gelegentlich zu monoton, aber jedenfalls wirklich lesender Peer Martiny angetroffen. Daher gab es noch genug Gelegenheit, Montaignes Gedanken "über die Traurigkeit", "über das Alter", "über Bücher" (so die Titel einiger der insgesamt 107 Essais), seine Gelehrsamkeit, seinen Humor, seinen Plauderton zu erleben.

Sebastian Podlejski

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  Ausgabe 18 - 1998