Ausgabe 17 - 1998berliner stadtzeitung
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Die Gefickten sind wir!

Protestantische Vorwahl-Rituale in SO 36

So schön kann Wahlkampf sein, wenn er nicht besonders ernst genommen wird. Im SO 36 stellte die berüchtigte KPD/RZ kürzlich die Koalitionsfrage. Eingeladen waren Ovo Maltine (Homo 2000), Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90/Die Grünen) und Gregor Gysi (PDS ). Und sie kamen auch alle: Zu Fuß, mit dem E-Mobil und irgendwie herein, genau in der Reihenfolge der Aufgeführten. Der Saal war voll. Die Leute ließen sich von den 5 DM Eintritt nicht abschrecken. Leider sind die alten Zeiten vorbei, als es noch Brause und Schnaps gratis gab (nachzulesen bei Tucholsky). Wobei: Wer trinkt heute noch Faßbrause oder Schnaps? Das Publikum bevorzugte Bier, wie auch die Dame Maltine, ein helles Hefeweizen. Zur Darreichung hatte sie sich Herren mitgebracht, die sonst wohl eher weniger auf der Bühne anhaben als einen Anzug. Das ist aber nur eine Vermutung. Hans Christian Ströbele und Gregor Gysi konnten, was die Spektakularität anging, dagegen in keiner Weise anstinken. Zumal vor ihnen beiderseits der Bühne noch zwei Cheerleader ihr Bestes taten. Dr. Seltsam stand auf dem Moderationsturm und tat desgleichen.

Die Stimmung war richtig dufte. Gemütlich auf Biergartenbänken sitzend konnte nun der Verlauf der Veranstaltung betrachtet werden, nachdem noch einige Kiezgrößen des SO 36 geehrt worden waren. Auch M. Lewinsky hatte sich zu einer Stippvisite eingefunden, sehr in die Höhe geschossen und abgemagert .

Das Publikum, bestehend aus vorzugsweise jungen Leuten, die immer bei sowas dabei sind, amüsierte sich wie Bolle, Schenkelklopfen inklusive. Dann irgendwann ging es endlich los: Die Kandidaten sollten erzählen, warum ausgerechnet sie in den Bundestag sollen. Gysi will Gerhard Schröder daran erinnern, wer August Bebel ist. Ströbele wird sowieso gewählt, jedenfalls in Kreuzberg und Frau Maltines Intention ist nicht erinnerlich. Dann sagte M. Lewinsky noch, daß die "Wähler sowieso nur die Gefickten" sind ( tosender Beifall). Aber der Ernst folgte nun: Die Eignungstests für den Bundestag. Nummer Eins: Waschen schmutziger Wäsche. No. Zwei (als Kür bezeichnet): Ausübung der ursprünglichen Berufe. Gysi und Ströbele hatten füreinander jeweils Verteidigungsplädoyers zu halten, Maltine machte Kabarett, wie immer. No. Drei (Pflicht): Tun, was den Kandidaten nicht so liegt. Maltine hatte sich mit einem Bundeswehr-Rekruten ins Benehmen zu setzen. Der fand sich nach einigen Minuten auf dem Boden liegend wieder, alle Viere von sich gestreckt. Ströbele sollte über Kunst sprechen, Gysi über Amerika. Alles keine wirklich schlimmen Aufgaben. Zwischen den einzelnen Akten zur Auflockerung gaben die Frühshopboys ihre schönsten Politikerlieder zum besten.

Der Höhepunkt des Ganzen war ein Radrennen der Beteiligten zum Tresen, um Dr. Seltsam ein Bier zu holen. Der Erste hatte gewonnen, und mußte als erster auf dem bereitstehenden Heißen Stuhl Platz nehmen. Die Fragen waren vorher beim Publikum eingesammelt worden. Heiß war es nicht, außer daß Ströbele zugab, das Programm der PDS nicht gelesen zu haben. Und Gysi hatte einen Stich, sonst hätte er den Abend wohl kaum überstanden. Er wußte offensichtlich bei seiner Zusage nicht, worauf er sich eingelassen hatte. Punkte gesammelt hatte er so allemal, wie auch die anderen beiden Kandidaten.

Abschließend trällerte der Reha-Chor des SO 36 das italienische Partisanenlied "Bella Ciao". Der Aufforderung mitzusingen, konnten aber wenig Anwesende nachkommen. Vielleicht haben sie sich nur nicht getraut. Zwischendurch bemerkte Gysi, daß Kreuzberg so schön östlich evangelisch sei. Aber auch nur fast.

Ingrid Beerbaum

© scheinschlag 2000
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