Ausgabe 17 - 1998berliner stadtzeitung
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Schwarze Wolken über Berlin

CDU-Wahlkampf vor dem Roten Rathaus gab es

"Der Kanzler kommt." Plakate in der ganzen Stadt schrien es schon Tage vorher von den Laternen herunter. Und am 27. August kam der Kanzler dann - mitten nach Berlin, vor das Rote Rathaus. "Kohl muß weg!"-Forderungen und andere Umarbeitungen der CDU-Wahlkampfplakate im ganzen Stadtgebiet ließen erahnen, daß es kein leichter Auftritt wird. 1500 CDU-Anhänger sind gekommen, ihr Durchschnittsalter liegt bei rund 60 Jahren.

Die Blasmusik mag nicht so recht Stimmung aufkommen lassen. Die herrscht woanders - 50 Meter links von der Bühne, wo ein Juso mit Megaphon die Eintretenden auffordert, "Kohl auf Wiedersehen zu sagen". Und am Neptunbrunnen: Dort stehen die, denen der Zutritt zum abgesperrten Areal um die Rednertribüne verwehrt geblieben ist. Das sind die Anti-Kohl-Fraktion mit ihren Trillerpfeifen, ein Verkäufer des "Straßenfegers", der Kohl ein Exemplar überreichen wollte, Obdachlose und Demo-Christian. 450 Polizisten müssen ganze Arbeit leisten, um Kohl vor den "Störern" zu schützen. Dennoch gelingt es zunächst immer wieder einigen von ihnen, sich unter die Sympathisanten zu mischen. Während der Reden von Eberhard Diepgen und von Günther Nooke, Direktkandidat in Mitte/Prenzl. Berg, sind Ordner und Polizisten innerhalb der Absperrung arg beschäftigt.

Der Regierende Bürgermeister ist ein ebenso schlechter Anheizer für den Kanzler wie der ehemalige Bürgerrechtler. Nooke beschwört "Berlin als die vielleicht wichtigste Metropole des nächsten Jahrhunderts", spricht sich für den Wiederaufbau des Schlosses aus und meint zu wissen, daß "hier zusammenwächst, was zusammengehört". Ein Willy-Brandt-Zitat ist an sich nicht verwerflich, die Emotionen des CDU-Volkes hat es aber nicht getroffen. Der Applaus bleibt spärlich. Die Rede ist Indiz dafür, warum es für sein Direktmandat wohl kaum reichen wird. Wer wie Nooke in Ostberlin gegen die PDS polemisiert, kann dort wohl schwerlich einen Wahlkreis gewinnen.

Als Helmut Kohl vom Rednerpult Besitz ergreift - im wörtlichen Sinne, er krallt sich geradezu an ihm fest - müssen sich seine Anhänger Mühe geben, dem Chor der einsetzenden Trillerpfeifen etwas entgegenzusetzen. Es gelingt ihnen nicht. Die Menge am Neptunbrunnen hat jugendliche Ausdauer. Und wer Kohls Reden kennt, weiß, daß sie nicht mitreißen. Für Beifall war sonst eigentlich immer Peter Hintze zuständig. Doch der ist nicht da, und so ist Kohl auf sich allein gestellt.

Er erwähnt die Jahrtausendwende, erinnert an die Nachkriegsgeneration. Sobald er historisch wird, ist er in seinem Element. Das hat er alles schon tausendmal erzählt, darin kennt er sich aus. Weiter geht es mit "blühenden Landschaften" und dem "Aufschwung, der nun da ist". Der Applaus hält sich in Grenzen. Kohl warnt vor einer PDS -tolerierten rot-grünen Regierung. Dem Schröder sei doch aus Machtgier alles zuzutrauen, gibt er sich erregt. Einige CDU-Anhänger klatschen brav.

Ohne den Kommunismus wären Reden im CDU-Wahlkampf nur halb so schön. Nooke kam nicht umhin, vor den extremen Linken zu warnen. Diepgen schlug in die gleiche Kerbe und Kohl erst recht. Das Heraufbeschwören einer "roten Gefahr" ist bestimmt nicht mehr so zeitgemäß wie in den 50ern. Den Kanzler und seine Getreuen stört das wenig. "Wenn ich mir die roten Fahnen dort hinten anschaue", brüllt er die Anti-Kanzler-Fraktion an, "so kann ich nur sagen, daß nirgendwo auf der Welt noch rote Fahnen wehen, außer auf Kuba. Das ist ein Auslaufmodell."

Inzwischen rebelliert sogar schon das Wetter - es fängt an zu schütten. Kohls Anhänger stehen im Regen. Manche haben Schirme dabei, viele machen sich auf den Heimweg - noch während Kohl spricht.

Stephan Zeisig

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