Ausgabe 17 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Der Zeitungsleser

Jahrelang habe ich die taz gelesen. Täglich. Von hinten nach vorne. Lokales, Sport, Fernsehen, Kultur. Dann war meistens Schluß. Manchmal gab es eine lustige Schlagzeile: Kapitalismus bleibt doch. Aber Politik interessierte mich nicht. Mit guten Ausgaben konnte man den ganzen Tag verbringen. Nachdenken, lachen, Freunde anrufen und etwas vorlesen. Die taz war witzig und unberechenbar, die wenigen Seiten waren immer für eine Entdeckung gut. Biestige Zeitgenossen behaupteten, man würde die Welt durch die taz wie durch eine rosarote Brille betrachten. Irgendwann versuchte die taz, eine normale Zeitung zu werden. So eine Zeitung, daß man keine zweite Zeitung mehr lesen muß, um gut informiert zu sein. Ich kenne zwar keine solche Zeitung, aber die taz wollte trotzdem so sein. Sie wurde normaler, aber nicht besser. Sie wurde langweiliger. Dann zog ich aus der WG aus, in der es die taz jeden Morgen zum Frühstück gab und ich war von einem Tag auf den anderen zeitungsmäßig obdachlos. Am Kiosk kostet die taz knapp zwei Mark und das ist doppelt so teuer wie die Berliner Zeitung.

Die Berliner - Stücke fürs Lebensgefühl

Die Berliner Zeitung macht einen übersichtlichen Eindruck. Links und rechts schwirren überall so kleine Meinungskästchen herum. Der Chefredakteur Maier mag kurze Stücke, hat Osang einmal erzählt. Die Zeitung ist voll von kurzen Stücken. Die Österreicher mögen das Abgekastelte, das kommt von den Bergen, von denen sie umgeben sind. Da ist man es nicht gewohnt, in die Weite zu blicken. Dafür sind die kurzen Stücke meistens gut geschrieben. Oft sogar sehr gut. Der Maier kann allerdings überhaupt nicht schreiben. Als er letztes Jahr zum Beginn einer neuen Ära glaubte, ein längeres Stück darüber schreiben zu müssen, daß Berlin doch nicht New York ist, hat leider keiner mehr den Text redigiert. Das war das erbärmlichste, was im letzten Jahr in der Berliner Zeitung zu lesen war. Jetzt hat er wieder was geschrieben, der Maier, ein kurzes Stück darüber daß "sich nämlich gezeigt (hat), daß es ein großes Bedürfnis gibt, aus den eigenen Bezirken besser und intensiver informiert zu werden." Seit vergangener Woche bringt die Berliner zwei Seiten mehr Lokales, was dazu führt, daß der Lokalteil jetzt einen angemessenen Umfang hat. Neben großflächiger Werbung, einem längeren Bericht über den Potsdamer Platz, einer rührigen und einer kriminellen Geschichte, ist jetzt noch zusätzlicher Platz für: beispielsweise einen Gemüseladen am Roseneck, in dem Harald Juhnke sich "mit Vitaminen eindeckt". Was Maier nicht geschrieben hat, ist, daß die neuen Bezirksseiten für die Westbezirke reserviert sind. Mit einer Ausnahme (Prenzlauer Berg) spielen alle größeren Geschichten auf den neuen Seiten zwischen Tempelhof und Spandau (Betrachtungszeitraum: erste vier Tage). Die zweite Neuerung ist im Wirtschaftsteil eine Seite über Berliner Wirtschaft. Mit Sicherheit eine sinnvolle Einrichtung. Der Wirtschaftsteil macht sowieso den interessantesten Eindruck der ganzen Zeitung. Da scheint was drinzustehen. Da ich den nie lese, kann ich das aber nicht wirklich beurteilen. Der Rest der Zeitung funktioniert, abgesehen von ein paar Ausnahmen im Feuilleton, wie die BILD-Zeitung. Man kann sie schnell durchblättern, bekommt einen groben Eindruck über das, was so los ist und hat außerdem nicht das Gefühl, daß man etwas verpaßt, wenn man nichts liest. Die Ausnahmen im Feuilleton sind auch seltener, als man so annimmt. Es gibt da zwar ein paar Leute, die recht gut schreiben können (im Sinne von: schön formulieren), aber richtig aufregend wirds am ehesten, wenn sich Fremdautoren äußern dürfen. Für den Weg, wenn er nicht zu lang ist, zur Arbeit, wenn man welche hat, ist die Berliner okay. Seit Osang im Urlaub ist, gibt es aber keinen besonderen Grund, die Zeitung zu kaufen. Geschenkt kann man sie als großstädtisches Accessoire problemlos mitnehmen.

Tagesspiegel - charmante Unübersichtlichkeit

Der Tagesspiegel ist hingegen eine gute, alte Zeitung, wie ich sie früher immer gehasst habe. Etwas träge und staubig auf den ersten Blick, im Detail voller positiver Überraschungen. Der Unterschied zur Berliner wird im Lokalteil am deutlichsten, der im Tagesspiegel als zweites Buch erscheint, also prominenter plaziert ist. Hier wird das politische und soziale Geschehen in der Stadt offensichtlich ernst genommen. "Berufsschule: Pädagogen verzweifelt gesucht" heißt der Aufmacher im Lokalteil (Berliner am gleichen Tag: "Am Potsdamer Platz ...") und unten drunter findet sich gleich eine investigative Geschichte über den Weltkulturerben-Streit um die Museumsinsel. Im Tagesspiegel-Lokalteil bekommt man auch mit, daß bald Wahlen anstehen. Bezirksberichte, Reportagen von obskuren Parteiversammlungen und Stellungnahmen einfacher Bürger wechseln sich munter ab und entfalten ein dichtes und informatives Stadtpanorama. Der Lokalteil ist politischer und vielschichtiger, ohne die Lebensartgeschichten zu vernachlässigen. Das Erscheinungsbild ist komplett altmodisch, obwohl die Schrifttype moderner als bei der Berliner ist. Wenn man die Zeitung aufschlägt, hat man eine schier nicht zu bewältigende Menge an Papier und Text in den Händen, die zudem total unübersichtlich ist. Man geht aus dem Lokalteil immer mit dem Gefühl heraus, daß man viel zu wenig Ahnung hat, was in der Stadt passiert (im Sinne von: gesellschaftlichen Prozessen, nicht von Ausgehterminen), aber mit ausreichendem Problembewußtsein. Der Tagesspiegel hat in der vergangenen Woche ebenfalls Neuigkeiten eingeführt: Im Kulturteil gibt es jetzt montags, mittwochs und freitags eine Seite Berlin-Kultur zusätzlich. Eine typisch halbgare Tagesspiegel-Neuerung, die zu den unregelmäßig erscheinenden Spezialseiten wie Campus, Wissenschaft, Interaktiv und Technik (neu) passt. Der Kulturteil soll damit pfiffiger werden. Wird er aber nicht. Die zwei üblichen Kulturseiten werden vielmehr noch schlaffer. Und die Berlin-Kultur-Seite ist so eine Art Berliner Zeitung im Tagesspiegel. Man merkt dem Blatt an, wie es um seine Tradition ringt und trotzdem modern sein will, gleichwohl ohne zu wissen, wie das funktionieren kann. Beim Tagesspiegel kann man die brüchige Situation der Stadt zwischen den Zeilen lesen. Das hat manchmal Charme, oft ist es aber nur einschläfernd. Dann schlafe ich und träume davon, wie mein Leben ohne Zeitungen wäre.

Stefan Strehler

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 17 - 1998