Ausgabe 15/16 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Schöne neue Mitte?

Überleben im Quartier Schützenstraße

Endlich bewegt sich etwas. Endlich geht es los. Kurz vor dem Regierungsumzug geht ein Ruck durch Berlin. Die Schaufenster rund um die Friedrichstraße nehmen ein neues Gesicht an. Noch vor wenigen Monaten war kein einziger Quadratmeter Ladenfläche im Quartier Schützenstraße, diesem knallbunten Fremdkörper im steinernen Berlin, vermietet. In allen Schaufenstern Schilder, die verhießen, daß bald Galerien und Filialen international renommierter Designer eröffnen würden. Nun ist es also so weit, die ersten Filialgeschäfte haben eröffnet. Feinkost gibt es bei Lidl, seine italienischen Designerschuhe kann man bei Mister Minit flicken lassen, edle Pflanzen bei Plantiflor erstehen.

In zwei Ladenlokalen, deren Schaufenster von innen verhüllt sind, wird die Eröffnung von gastronomischen Betrieben angekündigt: "Hier entsteht eine Brasserie", und weiter: "Hier wird die Eröffnung eines Restaurants mit internationaler Küche vorbereitet". Diese Schilder sind nun schon seit geraumer Zeit zu lesen, was verschiedene Vermutungen zuläßt. Ein Lokal mit internationaler Küche einzurichten, ist in Berlin zur Zeit ein bißchen schwierig, wenn man in der Speisekarte auch Spezialitäten aus Nicht-EU-Staaten anbieten und diese von Köchen aus Nicht-EU-Staaten zubereiten lassen will. Welcher Wirt will es schon riskieren, daß die Küche eines Abends kalt bleibt, weil dem Personal ein Heimatflug angeordnet wurde. Im Falle der Brasserie liegt eine andere Erklärung für die immer noch nicht vollzogene Eröffnung auf der Hand. Man will wohl mithalten mit den bereits eröffneten, international renommierten Filialgeschäften und tüftelt noch am Konzept. Hinter den verhängten Schaufenstern wird bereits eine rustikale Theke Berliner Eckkneipenbauart installiert. Erste Spekulationen über den Namen der Gaststätte werden laut: "Brasserie zum Schützenwirt".

Man will in der Schützenstraße offensichtlich nicht den gleichen Fehler machen, wie ihn ein Wirt in der benachbarten Jakobstraße gemacht hat. In einem edelst sanierten Gewerbehof wurde vor nicht allzu langer Zeit ein Lokal eröffnet, das zwar den Namen "Milljöh" - man wollte wohl auf Zille anspielen - erhielt, sich jedoch durch das Speisenangebot und die Getränkepreise von solchem Milieu abgrenzte. Nun hat man auch dort eingesehen, daß man sich vielleicht doch nicht hätte abgrenzen sollen. Man kämpft um jeden Kunden. "Wir haben die Bierpreise gesenkt", ist auf einem Pappschild neben dem Eingang zum Lokal zu lesen.

Es wird nicht wenige geben, die sich freuen, daß auch in der neuen Mitte Berlins Läden entstehen, in denen Sachen angeboten werden, die man brauchen und sich leisten kann. Es gibt sicher auch einige, denen das gar nicht so recht passen mag, die aber damit leben müssen, weil sie sonst ihre Ladenflächen immer noch nicht vermietet hätten. Immerhin haben sie sie jetzt vermietet. Es geht also los, anders als sie sich das gedacht haben.

Andreas Rüttenauer

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  Ausgabe 15/16 - 1998