Ausgabe 15/16 - 1998berliner stadtzeitung
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Fluchtwege freihalten

Ein Camp der Kampagne "Kein Mensch ist illegal" an der Neiße

Rothenburg an der Neiße wurde 730 Jahre alt. Zur Feier gab es ein Fest mit Würstchenständen. Neu war für die

Rothenburger die Einrichtung des "Trimm-Dich-Pfades Rothenburg" zu dem etwa 250 "Sportler/innen" der Kampagne "Kein Mensch ist illegal" aus dem ganzen Bundesgebiet und dem Ausland angereist waren.

Eine Wiese für das Camp vom 27.Juli bis zum 2. August zu pachten, war nicht so einfach. Angesichts von Fremden ist man im Grenzland nicht nur positiv gestimmt. Dies gilt in jedem Fall für die vielen Unbekannten, die ohne gültige Papiere über die deutsch-polnische Grenze kommen: 60 bis 70 Prozent der Aufgriffe von "Illegalen" durch den Bundesgrenzschutz (BGS) werden durch Denunziation von Bürgern ermöglicht.

Die "Sportler/innen" warben für Fairness: Sie verbreiteten Aufkleber in den umliegenden Ortschaften und verteilten Zeitungen, die sich für Fluchthilfe und gegen Denunziation aussprachen. Die örtliche Presse wetterte daraufhin gegen den "Aufkleberterror". Andere zeigten mehr Verständnis: "Menschen, die selber flüchten mußten, verstehen, daß Flucht ohne Hilfe kaum möglich ist."

Die Fluchtverhinderer des BGS wurden in den sportlichen Wettkampf einbezogen. In Schnelligkeit waren sie dem Team "Kein Mensch ist illegal", das unter dem Motto "Fluchtwege freihalten" überraschend einen Fährverkehr über den Grenzfluß Neiße errichtet hatte, unterlegen. Dabei hat der BGS eine starke Mannschaft in der Region: Ein Etat von drei Milliarden Mark finanziert unter anderem auch die 5000 Grenzschützer der deutsch-polnischen Armutsgrenze.

Bei einer Diskussionsveranstaltung in Görlitz befanden sich die Campteilnehmer vorwiegend unter sich. Ortsanässige Interessenten zur unterschiedlichen Bewertung von Flucht und Fluchthilfe zu "DDR-Zeiten" und heute - die offizielle Billigung von Fluchthilfe bei "guten" DDR-Flüchtlingen und die Mißbilligung von heutigen Flüchtlingen - blieben größtenteils aus.

Die "Sportler" kamen dafür zu den Görlitzern: mit einem Umzug mit Soundsystem, als außerplanmäßige Teilnehmer der 2. Etappe der "Sachsenrundfahrt" und mit dem Taxikorso, der gegen die Kriminalisierung von Taxifahrern protestierte.

Der ernste Hintergrund des "Spiels ohne Grenzen" zeigte sich am Donnerstag auf besonders drastische Weise durch den durch eine Kontrolle des BGS mitprovozierten Tod von sieben Kosovo-Albanern, die in einem Fluchthelferfahrzeug bei Weißenburg unterwegs waren. Die Zahl der Todesopfer an der Grenze seit 1990 erhöhte sich damit auf über 60 Menschen.

Infolgedessen fand am Freitag vor dem Krankenhaus Freiberg eine Demonstration gegen die "Menschenjäger des BGS" statt.

Mit einer "Regatta" auf der Neiße fand das Aktionscamp am Samstag seinen sportlichen Abschluß. Am Grenzübergang Bad Muskau begingen zahlreiche "Sportler/innen", in Badesachen und in Booten, "illegale Grenzübertritte". Der verspätet eintreffende BGS hatte seine Ausrüstung vergessen und konnte nicht teilnehmen. björn lendowsky

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