Ausgabe 14 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Flyer sind Partykultur sind Kult sind hip hyper.

Handzettel als Kommunikationsmittel einer multimedialisierten Jugend wirken auf den ersten Blick wie ein Anachronismus.

Trotzdem haben der Computer und die typographische Revolution, die er auslöste, viel mit der Entstehung des Phänomens zu tun.

Jeder konnte plötzlich mit einer Fülle von Schriften und Satzarten hantieren, bunte Zettelchen basteln, billig reproduzieren und diese zielgruppenorientiert auf Parties verteilen.

DerFlyer ist ein Wegwerfartikel im Hosentaschenformat, Werbeträger für eine einzelne Nacht, und bietet genau deshalb den Graphikern eine Menge Freiheiten, die diese normalerweise auf dem Altar der Lesbarkeit opfern müssen. Der Flyer ist - neben der Briefmarke vielleicht - die kleinstmögliche Gestaltungseinheit mit dem größtmöglichen Eyecatcher.

Was er an Information transportieren soll, kann bis zum Dada minimalisiert werden. Folgender Text zum Beispiel "ffwdd-270397-ost-ffm" liest sich als "fast forward (Name des Plattenauflegers)-27. März 1997-Ostklub-Frankfurt am Main" . Weil die Idee des Clubs auch von seiner Exklusivität lebt, von den Freuden des Entdeckens und Inside-seins.

Niedrige Stückzahlen animierten manche Gestalter zu unorthodoxen Formen und Materialien, neben Papier und Pappe finden sich beschriftete Plastikteile, Folien, Bauklötzchen, Streichholzschachteln, Singles, Wäscheklammern, Elektronikteile; sogar silberlackierte Äpfel mit kleinen runden Infoaufklebern wurden verteilt.

Eine solche silberne Apfelmumie (eingeschrumpelt, aber nicht verschimmelt) findet man zur Zeit im "Flyer Soziotope" in der Galerie Acud. Gezeigt werden, relativ unselektiert, über 10000 Exponate aus Berlin und dem Rest der Welt. Der Rest der Welt ist aufgefordert, die momentane Bestandaufnahme weiter zu aktualisieren, und zwar wenn die Ausstellung auf Tournee geht, nach Zürich, Wien, Paris, Prag, London, Amsterdam. Sie kehrt zurück im April 1999.

Es wird spannend sein, anhand dieser "Szenepost" Vergleiche anzustellen: zwischen ästhetischen Vorlieben, Ähnlichkeiten und Unterschieden einer immer globaler werdenden Kultur.

Auf die Frage, warum sie Schuhkartons voller Flyer horte, antwortete eine Sammlerin: "Für mich ist das wie ein Tagebuch, ich bin an so vielen Orten gewesen, und soviel unterwegs. Wenn ich später in den Schachteln stöbere, erinnere ich mich wieder ..."

Und flugs hat sich der kleine wilde Überflieger mutiert zum Souvenir.

UL

Flyer-Soziotope bis zum 26. Juli Galerie Acud, Veteranenstr. 21, Mitte, fon 443 59 884

© scheinschlag 2000
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  Ausgabe 14 - 1998