Ausgabe 12 - 1998berliner stadtzeitung
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Leben ohne Arbeit

Ein Film von Thomas Schadt und die Notwendigkeit Umzudenken

Lothar Heimrath ist 52 Jahre alt, Musikliebhaber und seit 2 Jahren arbeitslos. Jahrelang betrieb er eine Kneipe. Der Abstieg begann mit einem Überfall, monatelanger Krankheit, Verdienstausfall bei laufenden Kosten. Die Lebensversicherung ging für die Deckung der Schulden drauf. Lothar Heimrath war plötzlich mittellos und der Gang zum Sozialamt ein "Gang nach Canossa". Heute wohnt Herr Heimrath wieder bei seiner Mutter. Seine Chancen auf Arbeit sind schlecht. Dennoch ist er einer von sechs Langzeitarbeitslosen, die an einem Aufbautrainingsprogramm der Deutschen Angestellten-Akademie Wedding teilnehmen.

Elke Gomez, 49 Jahre, war früher Bankangestellte und ist seit 3 Jahren ohne Arbeit. Sie erzählt von den Irritationen dieser Zeit, stellt selbstkritisch fest, sich nicht gleich gekümmert zu haben, weil "mit 47 ist man ja noch nicht alt". Später wurde sie eines besseren belehrt, auf ca. 200 Bewerbungen folgte kein einziges Gespräch. Die Selbstsicherheit schwand und "...du läßt dich fallen. Du hast keinen richtigen Plan, ...dieser Druck, Zwang fehlt eben."

Wolfgang Klein ist 43 Jahre alt und seit 4 Jahren arbeitslos. Davor versuchte er sich erfolglos als Versicherungsvertreter, machte Schulden. Er ist der jüngste der sechs und keineswegs nur bemitleidenswertes Opfer. "Das Leben macht keinen Spaß. Ich habe eine Freundin, aber die werde ich nicht halten können... Geld ist alles! Ohne Geld funktioniert nichts. Keine Beziehung und nichts. Ich möchte wieder den Status haben, den ich mal hatte: ich bringe das Geld nach Hause."

Der Berliner Filmemacher Thomas Schadt begleitet die sechs Menschen in ihrem Alltag, bei Bewerbungstrainings, beim Einkaufen und Saubermachen. Er läßt sie über ihre Bemühungen und Frustrationen sprechen und über die seelischen Auswirkungen ihrer Arbeitslosigkeit. Mit bewundernswertem Mut offenbaren sie ihre inneren Ängste und beschreiben den sozialen Abstieg. "90 Prozent der Kontakte sind nach 3 Jahren weggebrochen" (Gert Bukowski, 47 Jahre). Margit Nickel, 46 Jahre: "Ich träume täglich davon, für mich selbst geradeaus blicken zu können, sagen zu können: Es war ein schöner Tag." Auf der persönlichsten Ebene ist der Film am stärksten.

Aber ob gewollt oder nicht: die Personen sind in ihren Aussagen durchaus ambivalent, ihr Mißerfolg bei der Arbeitssuche hat unterschiedliche Gründe. Einer davon ist gewiß die Alterspyramide auf dem Arbeitsmarkt und die Unfähigkeit der Generationen der über 40, 45jährigen, sich den neuen Marktbedingungen anzupassen, aber auch die in den "fetten Jahren" angestaute Selbstzufriedenheit, die nun plötzlich zur sozialen Isolation führt. Die abgefahrenen Züge transportieren die Jungen, die Flexiblen. Eine bloße Tatsache, ohne Larmoyanz zu akzeptieren. Sicherheit ist zur Mythe geworden.

Die Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung im währungsvereinigten Europa ist trügerisch. Nichts wird sich dadurch an den unterschiedlichen Lebensstandards innerhalb dieses kleinen Kontinents ändern. Das notwendige Rückschrauben des Lebensstandards in Deutschland wird politisch verschwiegen, weil unpopulär und dauert ohnehin Jahre.

Die Europäisierung und Globalisierung von Wirtschaft und Arbeit erfordert künftig auch andere Arbeitsmodelle.

Bspiel 1: Zeitarbeit. Macht in Deutschland bislang nur 0,6 Prozent aus, in den USA dagegen schon 12 Prozent. Neben großen Firmen wie ADECCO oder TIME POWER gibt es kleine, spezialisierte Firmen wie z.B. AMADEUS, die zunehmend projektweise Führungs- und Fachkräfte vermittelt. AMADEUS gewährt feste Arbeitsverträge mit tariflichen Sozialleistungen, jedoch geringer bezahlt als in Direkt-Arbeitsverträgen. Die Vorteile für die Firmen liegen auf der Hand: gezielter Einsatz von Arbeitskräften zu Stroßzeiten bzw. in befristeten Projekten. Allerdings liegt auch hier das Durchschnittsalter der Mitarbeiter unter 40 und das geforderte Maß an Flexibilität ist noch höher.

Bspiel 2: Homework, in Form von Nachauftragnehmerschaft (von Schreibbüros etc.) oder Network Marketing, d.h. Verkauf von Produkten und Dienstleistungen durch Agenten direkt an den Endverbraucher. Der Einzelhandel wird ausgeschaltet. Es braucht dazu einen PC (ggf. mit Internetanschluß), Telefon/Faxgerät und die Bereitschaft, quasi 24-Stunden-Bürozeiten anzubieten. Man ist selbständig tätig, mit dem Risiko eines freien Unternehmers.

Die Alternativen sind nicht sehr zahlreich. Zwar ist von einer "Erholung des Marktes" im Mai die Rede und tatsächlich sind in Berlin 8047 Arbeitslose weniger als im Vormonat registriert, aber die berühmte Trendwende wird allmählich ebenfalls zur Mythe. Die Quote liegt noch immer bei 16,1 Prozent. Ein kleiner Trost: Immerhin ist die Zahl der gemeldeten Stellen um 2046 auf 10273 gestiegen und die Tatsache, daß nur jede dritte Stelle beim Arbeitsamt gemeldet ist, läßt von ca. 30000 Stellen ausgehen. Hinzu kommen die zumindest bis September ausgeschütteten Wahlkampf-ABM.

Der arbeitslose Akademiker arbeitet künftig vielleicht in befristeten Forschungsprojekten oder als Chef seiner eigenen "Know-How-Agentur" oder, ja warum auch nicht?, als Verkäufer. Der Künstler verdient sich sommers sein "Wintergeld" mit Straßenporträtmalerei oder im Plattenladen... Zu einfach natürlich, um fast dreihunderttausend Arbeitslosen in Berlin eine Basis zu schaffen, aber eine Rückkehr zum engmaschigen Sozialnetz der 80er Jahre ist illusorisch.

Tja, und wie man dem Phänomen der jungen glücklichen Arbeitslosen beikommt, weiß auch die Autorin nicht. Vielleicht erübrigt es sich ja schon bald.

Kontroverse Wortmeldungen zum Thema sind ausdrücklich erwünscht!

Berit Wich-Heiter

"Leben ohne Arbeit - Langzeitarbeitslose berichten", Dt. 1998, 90 Min.,
Regie: Thomas Schadt am 24. + 25. Juni, jeweils 20 Uhr im Babylon-Mitte (am 25.6. Gespräch mit dem Regisseur)

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