Ausgabe 11 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Italien in Berlin 1898

Schwerer Wein - 4. bis 17. Juni

Verlässt man die Millionenstadt Berlin im Nordosten, wo die Häuser flacher werden, geht man hinaus auf der Schönhauser Allee, wo die gleichförmigen Häuserreihen von Kirchhöfen, Brauereien, Baustellen und kleinen Häuschen aus dem 18. Jahrhundert unterbrochen werden, sieht man in den Abendstunden dunkle, sonnengebräunte Gestalten in großen "Calabresern" in einem kleinen Häuschen verschwinden, dessen Anstrich grün, weiß und rot ist.

Eine Reihe großer Drehorgelfabriken, deren Firmenschilder ohne Ausnahme klangvolle, italienische Namen tragen, zeigen, dass sich in dieser Gegend der Reichshauptstadt die Boheme des bundesfreundlichen, sonnigen Italien niedergelassen hat. Geselliger Mittelpunkt dieser fahrenden Gesellen ist der "albergo italiano" des "Signore" Samuele Ripette in der Schönhauser Allee.

Doch wenn wir in diesem "albergo" Ähnlichkeiten mit den malerischen Wirtshäusern Italiens zu finden hofften, werden wir enttäuscht. Der erste Eindruck des Lokals, zu dem eine kleine Treppe hinaufführt, ist ernüchternd. Eine Glastür führt in einen schmalen Raum, dessen nach hinten gelegene Hälfte das Buffet ausfüllt, das in ganz normaler Weise mit flüssigen und festen Nahrungs- und Genussmitteln geschmückt ist.

Das Billardzimmer ist rechts davon. An der einen Wand sind korbumflochtene, langhalsige Flaschen mit italienischen Chianti-Weinen. Das Billard selbst ist mit einer Holzplatte belegt und kann so als großer Tisch benutzt werden. Links davon wiederum ist das Honoratiorenzimmer mit den Bildern König Humberts, der Königin Margherita und natürlich dem Porträt Garibaldis.

Giuseppe Garibaldi wurde 1807 geboren war zunächst piemontesischer Marineoffizier, schloss sich 1833 der Gewegung "Giovine Italia" an und kämpfte 1848/49 gegen die Österreicher in der Lombardei. Er war von mittlerer Größe, kräfigem Körperbau, mit großem Kopf und ausdrucksvollen, energischen Zügen, sein ursprünglich rötlicher Bart ergraute früh. Er trug gewöhnlich die berühmte rote Bluse und den schwarzen, runden Filzhut. Im Krieg von 1859 führte er ein Alpenjägerkorps gegen die Österreicher und errichtete 1860 einen Freischarenzug, den "Zug der Tausend", gegen Sizilien. 1871 zog er sich nach einigen Niederlagen aus dem aktiven Kampf zurück auf die kleine Felseninsel Caprera an der Nordküste Sardiniens, die von ihm zum Teil angekauft worden war.

Doch verfasste er noch Erklärungen zugunsten der Pariser Kommune, wie er überhaupt antiklerale oder radikale wie auch die chauvinistischen Bestrebungen der "Italia irredenta" von seiner Insel aus mit einigen Phrasen zu begrüßen pflegte. Eine vom italienischen Parlament 1874 votierte Dotation von 100000 Lire Rente lehnte er erst ab, 1876 jedoch nahm er sie wegen der Verschwendungssucht seiner Söhne an, 1882 starb er. Garibaldi gilt als größter Volksheld Italiens. So ist sein Bildniss hier in Herr Ripettes "albergo" nur allzu normal.

Noch mehr als diese Ausstattung erinnert Herr Ripette selber an den italienischen Charakter. Er ist ein Mann von echt süditalienischem Typ. Die wenigen Gäste, die sich am Nebentisch mit dem Kartenspiel "Tresette" vergnügen, trinken jeder eine "große Weiße". Wir dagegen wollen die Umgebung berücksichtigen und lassen uns ein Glas Vino d´Asti reichen.

Gebracht wird es von einem schlanken, hübschen Mädchen aus Genua mit echtem Ninetta-Kopf. Sie stellt uns das Gewünschte hin und gesellt sich zu dem esszeugputzenden Lazzaroni, um dem Gespräch der Kartenspieler zu lauschen. Das ist nun allerdings wirklich italienisch. Mit unheimlicher Zungenfertigkeit fließt die Sprache Dantes und Petrarcas von ihren Lippen, und auch Signor Ripette beweist, dass er seine Muttersprache am grünen Strand der Spree trotz "Weiße" und "Stullen" noch nicht verlernt hat. Zu unserer Schande müssen wir zugeben, dass wir nicht ein Wort verstehen. Doch lustig muss es sein, können sich die Leute doch vor Lachen kaum halten.

Der schwere italienische Wein lässt die Umgebung der Schönhauser Allee fast vergessen. Wir wollen gerade "vorre morir" anstimmen, als ein junges Mädchen mit einer Weißbierkruke im Umschlagtuch das Lokal betritt. Mit den Worten "Eene jroße Weiße!" stellt sie das Gefäß auf den Schanktisch und reißt uns aus allen Illusionen. O Dante! O Petrarca!

Inzwischen geht es auch im Billardzimmer lebhafter zu. Zwei Männer mit Gesichtern der echten "brigante" würfeln irgendetwas aus. Ein Gipsfigurenhändler unterhält sich laut schreiend mit einem Landsmann aus Piemont, und in den Rauchwolken, die den Raum durchziehen, tauchen schwarzbärtige, scharfgeschnittene Köpfe mit funkelnden Augen unter breitkrämpigen Schlapphüten auf. Braune Hälse, bunte Halstücher, Ringe in den Ohren. Wie alle durcheinanderlachen und schreien, mit den Händen fuchteln und gestikulieren, Evviva Italia!

Dann aber stimmt einer der Gäste, ein markiger Genuese, mit klarer Tenorstimme ein melancholisches Volkslied aus der Heimat an. Stiller und stiller wird es im Kreis. Erinnerungen an die sonnige Heimat, über welcher der Himmel des Südens in ewiger Bläue lacht, das saftige Grün der römischen Campagna und der sanfte Wellenschlag der Adria durchziehen die Seele dieser kleinen Kolonie. Wir bezahlen und gehen, hinter uns verhallen die Klänge des "Santa Lucia".

Falko Hennig

© scheinschlag 2000
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