Ausgabe 11 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Uniformierte Gewalt

Übergriffe der Polizei führen zu Anzeigen

Es ist Freitagabend, der Fernseher flackert vor sich hin. Und dann erscheint er endlich, der Verbrecherjäger Nummer Eins, der Grauhaarige mit Hornbrille, der sich nie zu einem Lächeln hinreißen läßt. Eduard Zimmermann. Seine sonore Stimme dringt aus dem Lautsprecher, ich spitze die Ohren:

"Wir kommen nun zu einem Fall aus der Hauptstadt Berlin. Engagierte Mitbürger haben uns auf einen Fall mutmaßlichen Verstoßes gegen das Demonstrationsrecht aufmerksam gemacht, bei dem sich die Täter durch besondere Kaltblütigkeit und Berechnung auszeichneten. Wir bitten um Ihre Mithilfe: Herr Kall*, 42 Jahre, war mit seiner Begleiterin auf dem Heimweg, als sie am 3. Mai gegen 15 Uhr das Willy-Brandt-Haus in Kreuzberg passierten. Dort trafen sie auf eine überraschend große Ansammlung von mehreren hundert Polizisten. Innerhalb dieser Menge befand sich zu der Zeit ein genehmigter Demonstrationszug, der sich kritisch mit der hiesigen Innen- und Ausländerpolitik befaßte. Herr Kall und seine Begleiterin sympathisierten mit den Aussagen der Lautsprecherwagen und so entschlossen sich beide, dem Demonstrationszug zu folgen. Sie gingen am Rand entlang, außerhalb der doppelten Polizeikette, die den friedlichen Zug umschloß. An der Ecke Gneisenau-/Nostizstraße kam es zur Überraschung von Herrn Kall und seiner Begleiterin zu einem plötzlichen Angriff der Polizeieinheiten auf Demonstrationsteilnehmer. Die mit grünen Anzügen und weißen Helmen Vermummten gingen ohne Vorwarnung auf Transparentträger los und verwickelten sie in ein Handgemenge. Dabei wurden auch andere Teilnehmer mittels Fausthieben, Tritten und ähnlichem willkürlich verletzt. Angesichts dieser Gewaltbereitschaft sahen sich die Veranstalter genötigt, die Demonstration an dieser Stelle zu beenden. Herr Kall als Betroffener hat inzwischen Anzeige erstattet. Wir bitten um weitere Hinweise von Zeugen zu dem Fall.

Im Zusammenhang mit den Gewalttätigkeiten am 3. Mai in Kreuzberg sind weitere Fälle konkreter Mißhandlung bekannt geworden: Die 18jährige Schülerin Vera S.* aus Berlin, die sich als Teilnehmerin im Demonstrationszug befand, wurde in Höhe der Nostizstraße von einem Unbekannten mit einem Faustschlag unvermittelt zu Boden gestreckt. Dabei erlitt sie Prellungen und eine Gehirnerschütterung. Zum Glück konnten Freunde der bewußtlosen Frau helfen, ein Krankenhaus zu erreichen, wo sie erst nach etwa drei Stunden erwachte. Von den uniformierten Tätern fehlt indes jede Spur. Auch in diesem Fall werden dringend Zeugen gesucht, die Hinweise zur Aufklärung geben können.

Der 15jährige Sven W.* war ebenfalls mit Freunden auf der Demonstration am 3. Mai. Er bewegt sich gern in Kreisen von Jugendlichen mit bunten Haaren und experimentellen Frisuren. Dies sollte ihm hier zum Verhängnis werden. Es hatte sich schon vormals gezeigt, daß die Tätergruppe sich gern Opfer mit diesem Erscheinungsbild sucht. Bei einer der Treibjagden auf der Gneisenaustraße geriet Sven durch ein Mißgeschick ins Hintertreffen und gelangte so in die Hände der Uniformierten. Handschellen, Schläge und Tritte mußte der Jugendliche über sich ergehen lassen, bevor er noch auf schikanöse Art und Weise von einem Wagen zum anderen gestoßen wurde. Hier zeigten sich die Entschlossenheit der Täter auf besonders drastische Weise. Auch in diesem Fall..."

Brzzz, ich schalte ab. Kann ja alles nicht wahr sein! Straftaten der Berliner Polizei werden öffentlich und unnachgiebig verfolgt - das erscheint in Wirklichkeit als wenig wahrscheinlich. Die Wirklichkeit sieht vielmehr so aus, "daß eine Anzeige gegen einen Polizisten in der Regel eine Gegenanzeige nach sich zieht", weiß Anne S. vom Ermittlungsausschuß (EA), wo alle Vorkommnisse bei Demonstrationen gesammelt und im Falle von juristischen Konsequenzen auch betreut werden: "Wenn es dann zu einem Verfahren kommt, ist die Erfolgsquote gering. Die Polizei ermittelt nicht, und die Gerichte trauen sich in der Regel nicht, Polizisten zu verurteilen." Während also die Polizei am Abend des 3. Mai stolz verkündet "konsequent gegen Straftäter eingeschritten zu sein", erwecken die Aussagen von Herrn Kall, Vera, und Sven den gegenteiligen Eindruck. Herr Kall hat Strafanzeige wegen des Verdachtes der Mißachtung des Demonstrationsrechtes gegen den Einsatzleiter gestellt, weil er "entsetzt war über die Entschlossenheit, mit der die Polizei die Demonstration durch ständige Provokationen praktisch unmöglich gemacht hat." Vera wird versuchen, Zeugen für ihren Fall zu finden: "Wenn ich Leute gefunden habe, die etwas gesehen haben, werde ich in jedem Fall Anzeige erstatten." Sven ist seither gestreßt genug von den Anzeigen", die gegen ihn selbst laufen. "Ich weiß nicht, das bringt ja eh nichts, eine Anzeige zu machen", sagt er sich, wie so manche/r Andere. In jedem Fall würde die Berliner Polizei erneut mit Vorwürfen von Willkür konfrontiert. In einer Fernsehtalkrunde auf SFB bezeichnete ein Immigrant das Vorgehen bei Personenkontrollen mit willkürlichen Festnahmen gar als "faschistisch." Der als Gast geladene Herr Böse vom Innensenat quittierte diese Bermerkung mit dem Hinweis, "wenn sie dieses Land für faschistisch halten, dann gehen sie doch dorthin zurück, wo sie hergekommen sind." Diese Bemerkung zeigte schließlich, wie er argumentativ mit dem Rücken zur Wand stand. Er sah sich nach den mehrfachen Vorwürfen, auch von anderer Seite, unvermittelt in "ein Tribunal gegen die Polizei" versetzt. Tribunale haben üblicherweise Folgen für die Angeklagten. Ob dies auch im Fall der Berliner Polizei möglich ist wird sich zeigen.

Björn Lendowsky

(* Namen von der Redaktion geändert)

Hinweise in jedem Fall an den EA, fon 6922222, Dienstag 20 bis 22 Uhr

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 11 - 1998