Ausgabe 09 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

7. bis 20. Mai

Die elektrischen Linien der Straßenbahn funktionieren bisher zur Zufriedenheit, so dass wohl einem Antrag auf Zulassung von Anhängewagen stattgegeben werden wird. Durch die elektrische Linie Kreuzberg - Demminer Straße werden 350 Pferde eingespart. Insgesamt sind durch die Umwandlung der Pferdebahnlinien schon 750 Pferde von den Straßen Berlins entfernt.

Das Berliner Dampfstraßenbahn-Consortium hat nunmehr mit allen Gemeinden Verträge abgeschlossen, die an einer Umwandlung der Vorortdampfbahnen in elektrische Bahnen mit Hochleitung interessiert sind. Das sind Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf, Steglitz, Friedenau, Schmargendorf und die Kolonie Grundewald.

Sehr störend wirkt auf die Besucher des Tiergartens und der städtischen Parkanlagen der Anblick der vielen fortgeworfenen Stullenpapiere und Speisereste, die fast an jeder Bank, auf den Wegen und auf dem Rasen liegen. Die Park-Deputation fordert deshalb die Rektoren auf, die Schulkinder in geeigneter Weise zu belehren. Auch will die Park-Deputation in den Parks Körbe zur Aufnahme des Papiers aufstellen.

Türkisch und Chinesisch sollen ab dem Winter Post- und Telegraphenbeamte im orientalischen Seminar lernen. In den deutschen Postanstalten in China, besonders seit Erwerb des Kiautschougebietes, hat sich gezeigt, dass die Beamten schon in der Heimat mit den Anfangsgründen der chinesischen Sprache bekannt gemacht werden sollten. Auch den nach den Kolonien reisenden Beamten soll auf Kosten der Postkasse Unterricht in Englisch, Französisch oder beiden Sprachen erteilt werden. Für Konstantinopel wäre Französisch, für Togo Englisch und Französisch, für Kamerun, Südwestafrika, Samoa und China Englisch nützlich.

Im Artisten-Café - Unter den Linden sind sie alle versammelt, die abends im tausendflammigen elektrischen Licht auf der Bühne singen und tanzen. Hier befindet sich auch die Artistenbörse, man sieht die Variété- und Künstler-Agenten an ihren Tischchen, auf die sie mit den Jahren ein historisches Recht erworben haben, um sie herum die Korona der Engagementslosen. Jede Nation hat ihren Platz und ihre Ecke. Hier sitzen die Franzosen, die Damen mit großen Hüten auf den hochfrisierten Köpfen mit ganzen Blumen- und Vogelausstellungen. Ganz vorn sitzen die Engländer, man erkennt sie sofort. Sie sind immer in den großen englischen Blättern eingewickelt, man sieht nur die vorgestreckten großen Füße. Genauso haben die Italiener, die Österreicher, die Amerikaner, die Ungarn und die Japaner ihre bestimmten Ecken. Gerade die Japaner dürfen in keinem Programm mehr fehlen, wie in allen anderen Bereichen, so verstehen sie es auch in der Artistik sich kraftvoll vorzudrängen.

Die lautstarke Unterhaltung dreht sich ums Geschäft. Einer erzählt von seinen großen Erfolgen bei Köster und Bial in New York, bei Walter in San Francisco, bei Ciniselli in Petersburg und Cirkus algeria in Madrid. Ein anderer ist mit Moß und Thornton in England gereist, dieser dort war mit Bailey and Barnum in Südamerika, jener mit Cooke in Afrika und ein nächster gar mit Chesey Brothers in Australien auf Tournee. Der Mann ist Mimiker, man sieht es seinem Gesicht mit dem lebhaften, nervösen Minenspiel deutlich an. Er sei bis zum Juli 1899 ausgebucht.

Solange die Sängerinnen jung und schön sind, sind sie mit Engegaments versorgt. Deshalb ist ihre Toilette so ganz anders als die anderer Damen. Ein Gewirr von Spitzen und knisternder Seide, von Gaze und Tüll, von Rauschen und starkem Duft nach Patchouli oder Veilchen. In der Ecke sitzt ein alter Mann. Er war früher Reckkünstler gewesen, hat sich bei einem Sturz ein Bein gebrochen. Dann ist er Clown geworden, später hat er dressierte Hunde vorgeführt. Jetzt lebt er von Almosen der Glücklichen. Für die Agenten ist dieser Mann längst tot. Der moderne Artist kennt diese Zukunft und spart deshalb bei Zeiten.

Auf dem Gelände der Artilleriekaserne am Oranienburger Tor soll noch im Lauf des Sommers ein Kolossalbau mit Zirkus, Variété und Konzertsälen entstehen, so berichtet ein Artistenfachblatt. 110 Ruten mit Front zur Friedrichstraße sind tatsächlich von zwei Bankiers und einer Architektenfirma vom Militärfiskus erworben worden. Eines der Projekte, die diesem Konsortium zugegangen sind, ist auch das eines Theaters, jedoch haben sich die Besitzer noch gar nicht entschieden. So ist also der Bericht des Artistenblattes gegenstandslos.

Die Friedrichstraße an der Weidendammer Brücke wird mit Holzpflaster nach einem neuen Pariser System versehen. Dabei liegt am Fuß der einzelnen Klotzreihen eine dünne Holzleiste, so dass breitere und regelmäßige Fugen entstehen. Diese werden nicht mehr mit Teer, sondern mit Zement ausgegossen.

Nach Wyk auf Föhr reisen am Morgen des 14. Mais 75 Kinder. Sie finden sich 5.45 Uhr auf dem Lehrter Bahnhof ein und zeigen musterhafte Ordnung bei ihrer Einwaggonierung in den Schnellzug.

Die Pumptante ist tot. Diesem in Chantankreisen sehr bekannten Original wird wenig Gutes nachgesagt. Sie hatte sich ein System zurechtgelegt, um das leichtsinnige Völkchen der Chansonnetten zu schröpfen. Ihr normaler Zinssatz war 10 bis 20 % pro Monat, doch ließ sie sich bei längeren Fristen noch weit höhere Zinsen zahlen. Sie nahm Kostüme, Schmuck, Kleider und Wäsche als Pfand und ließ sich nicht auf Bürgschaften ein.

Falko Hennig

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  Ausgabe 09 - 1998