Ausgabe 09 - 1998berliner stadtzeitung
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Die Gesetze der Straße

Mental Maps von Uwe Rada

Vorbei. Aus und vorbei! Kein Rosenbaum mehr und keine Einbahnstraße in der Choriner Straße. Zumindest nicht zwischen Oderberger und Schwedter. Was das miteinander zu tun hat? Ganz einfach. Das Rosenbaum war eine Yuppiekneipe und die Yuppies, die in diese Yuppiekneipe gingen, waren nicht nur Yuppies, sondern auch Geisterfahrer. Sie ignorierten sowohl die ungeschriebenen Gesetze im Kiez als auch die Straßenverkehrsordnung, fuhren mit ihren Cabriolets und Straßenkreuzern nicht nur die Schönhauser Allee hoch, sondern auch die Choriner Straße runter. Was daran so verwerflich war? Die Chorinerstraße war eine Einbahnstraße, auf der man nur hoch, aber nicht runterfahren durfte. Schon gar nicht als Yuppie.

Mir kam die Aufhebung der Einbahnstraßenregelung wieder in den Sinn, als ich am vergangenen Samstag über den inneren Zusammenhang zwischen Stadt und Glück grübelte. Dieser innere Zusammenhang, so viel wußte ich bereits, hatte viel mit Wahrnehmung zu tun. Immer wenn ich über Wahrnehmung grüble, muß ich an M. denken. Und an die Choriner Straße. Einmal wollte ich M. ein Haus in der Choriner zeigen. Wo war die Choriner Straße nochmal? lächelte M. ihr unschuldigstes Berliner Eingeborenenlächeln. Zwischen Gormann und Schönhauser, sagte ich. M. lächelte noch immer. Ich suchte in Gedanken den Stadtplan nach M. verständlicheren Wegmarken ab. Parallel zur Kastanienallee, sagte ich. Aha, nickte M., parallel zur Kastanienallee. Ich grübelte über meinem inneren Falk-Plan. Sag mal, sagte M. nach einer Weile, meinst Du etwa die Straße, wo die Autos alle in einer Richtung fahren?

Bevor ich meine Gedanken über Stadt, Glück und Wahrnehmung zu Ende denken konnte, klingelte das Telefon. Meine Nachbarin. Willst du bei diesem schönen Wetter in deinem Loch verrecken? fragte sie. Also gut, sagte ich, wann? In fünf Minuten, sagte meine Nachbarin.

Unten beim Griechen floß das Bier in Strömen. D. hat wieder Dienst, sagte meine Nachbarin, heute wird es philosophisch. Sie bestellte Wein. Was macht Dich im Kiez glücklich? fragte ich. D. kam mit der Karaffe Nemea und lächelte. Der Wein beim Griechen, lächelte meine Nachbarin zurück und trank das erste Glas leer. Dann wandte sie sich wieder mir zu. Sie lächelte noch immer. Andere trinken Bier, sagte ich, sind die weniger glücklich? Nö, sagte meine Nachbarin, jeder nach seiner Fasson. Soll das heißen, daß am Ende jeder tun kann, was er will?, fragte ich. Solange er dem andern nicht in die Quere kommt.

Offenbar war der Wahrnehmungszusammenhang zwischen Stadt und Glück doch schwerer zu fassen, als ich glaubte. Mein Kopf fuhr Karussell. Ich wußte noch nicht einmal, ob ich nun Nemea trinken sollte oder Retsina. Dabei war mir das postmoderne "anything goes" eigentlich zuwider.

D. nahm mir die Entscheidung ab. Er stellte eine Flasche Retsina auf den Tisch und setzte sich. Stör ich Euch? fragte er. Der Herr hier will wissen, was der Zusammenhang zwischen Stadt und Glück ist, grinste meine Nachbarin und zeigte mit dem Finger auf mich. Das hat mit der Wahrnehmung zu tun, lächelte D.. Während Epikur der Meinung war, daß die Lust Ursprung und Ziel des glücklichen Lebens sei, bestanden die Stoiker auf der Pflicht, gemäß der Natur zu leben. D. zitierte Zenon: "Zu keinem anderen Zwecke ist es nötig, Naturerkenntnis zu betreiben, als zur Scheidung des Guten und Schlechten." Und was ist deine Meinung? fragte ich. Ach weißt Du, sagte D. und stand auf, die Pflicht ruft.

Also auch er ein Postmoderner, seufzte ich, und das als Grieche. Was ist postmodern? fragte meine Nachbarin. Ihr Glas war schon wieder leer. Ganz einfach, sagte ich und bestellte eine weitere Flasche Retsina, das ist das alte Spiel aus Kindertagen: Ich sehe was, was du nicht siehst. Wenn wir nicht mehr dasselbe sehen, ist das Postmoderne. Dann kann jeder machen, was er will. Und keiner mehr sagen, was Gut und was Schlecht ist. Du alter Stoiker, sagte meine Nachbarin, und wo bleibt da die Lust?

Am nächsten Morgen klingelte das Telefon. Um acht. Meine Nachbarin. Mein Kopf fuhr nicht nur Karussell, sondern Achterbahn. Was willst du? schrie ich in den Hörer. Ich habe ein Problem, sagte meine Nachbarin, ich brauche einen Stadtplan. Ich muß in Schmargendorf ein paar Layoutentwürfe abliefern. Plötzlich ahnte ich, daß der Tag mit einem Triumph für mich enden würde. Ich komme mit, sagte ich kurzerhand, fünf Minuten?

Im Auto breitete ich den Stadtplan aus. Links, sagte ich, dann die nächste rechts. Willst Du mich verarschen? fragte meine Nachbarin. Überzeugen, sagte ich, überzeugen. Wovon? fragte sie und fuhr in Richtung Gormannstraße. Vom Stadtplan, sagte ich. Ist nicht in diesen postmodernen Zeiten, wo jeder nur nach seinem Glück sucht, der Stadtplan das einzige, was für alle noch gültig ist.

Scheiße, sagte meine Nachbarin. Ich hob den Blick vom Stadtplan und erschrak. Auf der Choriner Straße kam uns ein Auto entgegen. Auf unserer Spur. So ein Idiot, schrie meine Nachbarin. Zu spät.

Im Polizeiauto sah ich M. wieder. Wir tauschten ein einvernehmliches Lächeln. Die Straßenverkehrsordnung gilt für alle, belehrte der Polizist meine Nachbarin, auch für Sie! Das ist wie mit dem Stadtplan, bemerkte ich. Wie bitte? erwiderte meine Nachbarin, die Choriner Straße ist schließlich keine Einbahnstraße mehr. Man sieht nur, was man weiß, sagte ich und erinnerte an den Abend zuvor, im Straßenverkehr ist es eben manchmal besser, stoisch zu sein als nach dem Lustprinzip zu verfahren.

Dann habe ich von der Aufhebung der Einbahnstraße wohl nur geträumt, schimpfte meine Nachbarin. Die gilt nur von der Oderberger bis zur Schwedter, dozierte der Polizeibeamte. Triumphierend wedelte ich mit dem Stadtplan. Unfallzeit, 8.15 Uhr, Choriner Straße, notierte der Polizeibeamte laut auf seinem Notizblock. Ich nickte M. aufmunternd zu. Wieso Choriner? fragte M., sind wir nicht auf der Kastanienallee?

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