Ausgabe 07 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

9. bis 22. April

Frau L. Sp. aus Groß Lichterfelde schreibt empört an den Berliner Lokal-Anzeiger: "Wir wohnen hier in der Nähe des Friedhofes; und da kam vor einigen Tagen an meinem Fenster ein Fuhrwerk vorbei, was mir doch sowohl in hygienischer wie pietätvoller Hinsicht sehr zu denken giebt, und will ich darum den Fall der Oeffentlichkeit mittheilen. Man denke sich einen richtigen Schlächterwagen mit Firma daran, wie er zum Transport des Fleisches benutzt wird; darauf aber - einen Kindersarg mit Blumen und Kränzen geschmückt, begleitet von den Eltern des Kindes, die vorn auf dem Bock saßen und ihr Kind zum Friedhof fuhren. Andern Tags wird dann auf demselben Wagen, der heute eine Leiche fährt, das Fleisch aus der Markthalle geholt, welches uns zur Nahrung dient. Könnten da nicht lieber die kostbaren Kränze fern bleiben und dafür lieber die Ausgabe für einen Leichenwagen gemacht werden? Waren das nicht die Eltern ihrem Kinde schuldig?"

Die Taufe eines schwarzen Mädchens in der Jerusalemer Kirche ist eine Sensation. Der Täufling ist die in Berlin geborene jüngste Tochter des Aschantihäuptlings der Feenpalast-Truppe. Das Kind wird auf den Namen Aschio-Kari, Berlina, Augusta getauft. Die vielen erschienenen Damen drängen sich der Taufgesellschaft zu und die Eltern werden von vielen Seiten herzlich beglückwünscht. Auch vor dem Portal staut sich eine große Menschenmenge, die neugierig auf das "Berliner Aschantikind" ist.

Ein hoher Mitarbeiter der Reichsbank äußert sich zu dem von Grünenthal verübten Geldfälschungen: "Nicht Ausschuss-, sondern Überschuss-Noten liegen den Grünenthalschen Verbrechen zu Grunde. Nur die Überschuss-Exemplare werden vor ihrer Auslieferung mittels Durchlochen dem Tresor übergeben, zu dem Grünenthal ja einen der Schlüssel besaß." Würde die Reichsbank eine solche von Grünenthal gefälschte Banknote auszahlen? "Niemals! Das heißt - wenn der Kassierer sie erkennen sollte. Aber das ist´s ja eben - wie soll er derartige Noten erkennen?" Was wäre, wenn man zwei Tausendmarkscheine mit der gleichen Nummer einwechseln wollte? "In diesem Fall wird der Kassierer beide Noten zurückweisen. Nur die erste Note darf er einlösen. Doch welcher der beiden Scheine ist der echte?"

Gefälschte Fünfpfennigstücke kursieren in großer Menge und scheinen vom Norden Berlins her in den Verkehr gebracht zu werden. Bei genauerer Prüfung stellen sich diese Münzen als echte Einpfennigstücke heraus, die vernickelt wurden und so den "Sechsern" gleichen. Die merkwürdig gefälschten Geldstücke werden meist in den Dämmerstunden an den Mann gebracht.

Die Müllverbrennungsfrage scheint eine glückliche Lösung gefunden zu haben. Die beiden Vorsitzenden des Grundbesitzervereins der Schönhauser und angrenzenden Stadtteile stellen seit Monaten Schmelzversuche des Berliner Hausmülls an. Mit den im Müll enthaltenen brennbaren Bestandteile und Zusatz von Kohlenstaub wird unter Zufuhr heißer Luft eine Hitze von 1500 bis 1800 Grad Celsius erreicht, in der die unverbrennlichen Bestandteile des Mülls leicht schmelzen. Ohne den geringsten Aschenrückstand können sie weißglühend in flüssiger Form abgelassen werden. Die flüssige Masse erkaltet dann zu schwarzen Glasklumpen, die zur Betonbereitung und vielen anderen Bauzwecken verwendet werden können.

Der Siegeszug des Telephons scheint nicht aufzuhalten. Immer weiter spannt sich das Netz der Telephondrähte aus, und allmählich wird man durch ganz Europa sich unterhalten können und bald auch über den Ozean hinüber. Jetzt kann man schon von Berlin bis ans Nordende Jütlands sprechen. Der Fernsprechverkehr mit den Orten Rudkjöbing, Marstal, Nordby-Fanö, Nykjöbing in Jütland, Skive und Thisted ist nämlich jetzt auch eröffnet worden. Die Gebühr für ein gewöhnliches Gespräch bis zu drei Minuten beträgt zwei Mark 50 Pfennig.

Die letzte Tanztabagie, das in der Mulackstraße 3 gelegene Lokal "Der Schmortopf" wird gerichtlich versteigert und also von der Bildfläche verschwinden. Der Schmortopf gehört zu jenen Lokalen, die in ihrer lichtscheuen Existenz dem Vorgehen der Polizei weichen müssen. "Tanztabagie" heißen sie, weil in ihnen ebenso eifrig dem meist in wüste Rauferei ausartenden Tanz wie dem maßlosem Tabakrauchen gefrönt wurde. Deshalb hieß das Lokal auch Schmortopf: erst wenn es vom Qualm der schmauchenden Gäste so angefüllt war, dass keines der tanzenden Paare das andere erkennen konnte, öffnete der Wirt die obere Hälfte eines Fensters. Dann zogen dichte Rauchwolken, dem Dampf eines vom Feuer gehobenen Schmortopfes gleich, durch das Fenster auf die Straße. Für die Polizei waren solche Lokale lange still geduldete Stätten. Fanden doch hier meist die Zusammenkünfte gefährlicher Verbrecher beiderlei Geschlechts statt und war deshalb so manch guter Fang zu machen.

Falko Hennig

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  Ausgabe 07 - 1998